© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Versöhnung ist Wunschdenken
Doppelgedächtnis: Europa erinnert sich für die Zukunft, während die Deutschen an ein „falsches Geschichtsbild“ glauben
Christian Dorn

Auch zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bleibt die Frage offen, auf welchem historischen Fundament die EU letztlich gründet. Das heißt, eigentlich gibt es eine Antwort, die lautet: Es gibt kein gemeinsames Geschichtsbild. Dies ist der dialektische Erkenntnisgewinn, dem sich die Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa verschrieben hat. Demonstriert wird das durch die unter dem Titel „Doppelgedächtnis“ stehende Debattenreihe, deren Fazit jetzt in einer Konferenz gezogen wurde. Motto: „Europa erinnert sich für die Zukunft“.

Tatsächlich hat „Europa“ längst angefangen zu vergessen – etwa, wenn deutsche Medien den Sieg des ungarischen Ex-Premiers Viktor Orbán als „rechtspopulistisch“ denunzieren. Dies sei logisch, meint der Welt-Journalist Jacques Schuster, denn „das kollektive Gedächtnis der Deutschen beginnt erst 1933“, die Deutschen hätten keine Ahnung mehr vom Ersten Weltkrieg und den durch den Trianon-Vertrag verursachten Territorialverlusten. Dank der Verabsolutierung von Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der den 8. Mai 1945 auf einen „Tag der Befreiung“ verkürzte, glaubten heute, so der Münchner Historiker Horst Möller, 95 Prozent der Deutschen an ein „falsches Geschichtsbild“. Für den bulgarischen Publizisten Dragomir Iganov hingegen beginnt unsere Gegenwart mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches. Der Begriff der „Versöhnung“ sei deshalb Wunschdenken – darin stimmt er der rumänischen Philosophin Germina Nagat bei, in deren Augen es sich um einem „Terminus der politischen Korrektheit“ handle.

Polens Botschafter Marek Prawda dagegen ist fast am Ziel: Seine deutschen Gesprächspartner wüßten zumeist nicht, was sie selber eigentlich wollten. Versöhnend fügte er an: Erfreulich sei aber die Presseberichterstattung zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs gewesen, da – so Prawdas Fazit – die Bewertung der Historie in den deutschen und polnischen Medien bereits einheitlich gewesen sei. Das kann im Umkehrschluß nur heißen: Die Deutschen machen sich das polnische Geschichtsbild zu eigen – Deutschland vergißt sich für die europäische Zukunft.

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