© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Behauptet eure Lufthoheit!
Gerlinde Unverzagt kämpft gegen die Verstaatlichung der Erziehung und ermuntert Eltern zu mehr Selbstbewußtsein
Ellen Kositza

Als Sachbuchautorin zu pädagogischen Themen hatte Gerlinde Unverzagt schon lange einen Namen, bevor sie 2006 mit ihrem „Lehrerhasserbuch“ für Schlagzeilen sorgte (JF 12/06). Unter dem – beizeiten „enttarnten“ – Pseudonym „Lotte Kühn“ ging sie damals harsch mit dem Schulalltag ins Gericht. Die Schläge, die sie seinerzeit austeilte, waren bisweilen unsachlich, das Echo der empörten Lehrerschaft traf sie umgekehrt gar unter der Gürtellinie.

Tüchtig austeilen können – Unverzagt, mittlerweile fünfzig Jahre alt und Mutter von vier Kindern, versteht das ganz gut. Von ihrer Kritik an Bevormundungssystemen ist die kluge und polemische Vielschreiberin auch in ihrem aktuellen Buch nicht abgerückt. Abermals will sie „Eltern den Rücken stärken“ – gegen staatlichen Interventionismus jeglicher Couleur. Nimmt man als Leserschaft eine westdeutsche, großstädtische und bürgerliche Klientel an, so hat sie hervorragende Argumente auf ihrer Seite. „Entspannt euch mal!“  ruft sie der dauerbesorgten Elternschaft freundschaftlich zu. Laßt euch nicht einreden, daß ihr in einer dauerhaften „Bringschuld“ gegenüber euren Kindern mit hochemotionalen Ansprüchen steht, laßt euch nicht verunsichern von den hochmögenden Erziehungs- und Bildungsnormen der sogenannten Spezialisten.

Zu Recht sieht die Autorin gerade ehrgeizige Eltern unter einem gewaltigen sozialen Druck: Da ist zum einen die ziemlich „neue Idee mit beträchtlicher Strahlkraft“, daß Eltern als geliebte Freunde ihrer Kinder aufzutreten haben, daß familiäre Entscheidungen intergenerationell „demokratisch“ getroffen werden sollen. Zugleich sollen Mütter nach aktueller Norm möglichst ganztägig berufstätig sein, zusätzlich „auch mal an sich selbst denken“ und die knappe Zeit mit Kindern als exklusiv-hochkarätige quality time verbringen. Was Wunder, daß dann – am späten Nachmittag also und wochenends – der weitgehend familienferne Alltag nach Kräften und mühsam anhand von vielerlei Normen kompensiert wird. „Derart aufgeladen mit geradezu gottähnlicher Verantwortung, gerät die unsichere Elternpersönlichkeit ins Visier der Experten für Kindererziehung.“

Elternschaft werde heute weniger mit Schutz und Vertrauen assoziiert, sondern mit Hilflosigkeit (man betrachte TV-Formate wie „Supernanny“ etc.) und, ausstrahlend von einzelnen Vernachlässigungsfällen, gar mit Gewalt. Das aus solchen Darstellungen resultierende schwindende Selbstbewußtsein der Eltern ermöglicht erst die sogenannte Lufthoheit des Staates über den Kinderbetten. Und schafft es darüber hinaus, die somit geschaffenen Elternsorgen „in Cash umzuwandeln“, indem jede Befindlichkeit (die vorgebliche Konzentrationsschwächen der Tochter, die angebliche Rollenfixiertheit des Sohnes etc.) vermittels einer Dienstleistung behoben werden kann. Durch amtliche Broschüren, Beratungszentren und oktroyierte Rollenbilder lassen sich Eltern kleinhalten: War mein Ton zu harsch? Das Essen zu wenig ökologisch? Die getroffene Entscheidung womöglich undemokratisch?

Zurecht bespöttelt Unverzagt auch ministerielle Kampagnen wie den Ruf nach einer „Kultur des Hinsehens“, die in Wahrheit eine Unkultur des anonymen Verpetzens und der Denunziation sei. Die alte pädagogische Solidarität unter Erwachsenen sei lange schon verpönt, ein Eingreifen bei „Mißständen“ werde heute an den Staat delegiert. Wie wahr, und wie traurig! Nachbarliches Miteinander gemäß dem Sprichwort, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, wird heute ersetzt durch Überwachungskameras.

Ein gelegentliches Überschnappen des kämpferischen Duktus der Autorin ist dabei verzeihlich. Daß es gleich „bescheuert“ sei, das Kind bei jeder Entscheidung in den Mittelpunkt zu stellen, daß jeder mediale Ruf nach staatlichem Eingreifen in familiäre Sphären „Schneisen der Verwüstung mitten durchs Private“ schlage, daß es sich dabei um „durchgeknallte Sicherheitsbedürfnisse“ handle: Solche Temperamentsausbrüche mag man schlucken – wo sie letztlich sachlich fundiert sind.

Skepsis ist angebracht, wo Unverzagt inhaltlich übers Ziel hinausschießt. Daß das deutsche „Versagen“ bei der Pisa-Studie „messerscharf“ allein den Eltern angelastet wurde, ist ebenso eine übertriebene Sichtweise wie die Behauptung, daß „heute elterliche Inkompetenz als Normalfall dargestellt“ werde. Und darüber hinaus: Unverzagt scheint allein ihre Berliner Mittelschichtseltern mit den üblichen Upperclass-Sorgen (impfen oder nicht impfen, Ergo- oder Logopädie, Frühenglisch oder -chinesisch) im Blick zu haben. Daß es in der Tat zigtausendfache Elternhäuser gibt, die mitnichten dazu neigen, ihr Kind nach Kräften zu fördern, sondern große Probleme haben, auch nur für einen wie auch immer gearteten familiären Tagesablauf zu sorgen, übergeht sie.

Man muß es wohl so sehen: Jene prekären Sorgenkinder mit elterlicher Verantwortung werden kaum in Verlegenheit geraten, zu diesem Buch zu greifen. Und allen anderen bietet es eine formidable moralische Unterstützung gegen die Industrie der Angstmacher und Normierer.

Gerlinde Unverzagt: Eltern an die Macht! Warum wir es besser wissen als Lehrer, Erzieher und Psychologen. Ullstein Verlag, Berlin 2010, gebunden, 237 Seiten, 18 Euro

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