© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

„Nicht sehr widerstandsfähig, monsieur le juge“
Frankreich im Mai 1940: Ein singulärer Zusammenbruch der starken französischen Armee gegen die angreifende Wehrmacht und europäische Visionen
Mirko Lehrs

Die Weltgeschichte kennt nichts dergleichen: eine Großmacht, die innerhalb von fünf Wochen einstürzt wie ein Kartenhaus. In deren Hauptstadt der Feind mit „ Des Großen Kurfürsten Reitermarsch“ einzieht. So geschehen in Paris am 14. Juni 1940 nach dem „Blitzfeldzug“ der deutschen Wehrmacht gegen Europas stärkstes Heer: gegen ein Heer, das nach einem vierjährigen Völkerringen seine Stellungen 1918 als Sieger verlassen hatte und das sich, 1940 eingebunkert in der als unüberwindlich geltenden Maginotlinie, eines zweiten Triumphs über die „Boches“ sicher wähnte. Kein Wunder, daß Frankreich sich heute noch viel lieber an den 11. November 1918 als an den 8. Mai 1945 erinnert.

Das neue Hochglanzheft von La Nouvelle Revue d’Histoire (47/2010) rührt daher an ein nationales Trauma, wenn es diesen einzigartigen Zusammenbruch im Frühjahr 1940 thematisiert. Um das Schmerzempfinden mancher Leser noch weiter zu testen, fügt die Redaktion ihrem Schwerpunkt ein Interview mit Pauline Lecomte an, dem Biographen des „skandalösen“, hierzulande beharrlich als „Antisemit“ und „faschistischer Kollaborateur“ wahrgenommenen Louis-Ferdinand Céline (1894–1961). Im Gespräch über diesen begnadeten „Pamphletisten“ und großen Romancier läuft natürlich viel auf das nationale „Desaster“ von 1940 hinaus, mit dem für den bakteriologisch versierten Céline die große europäische „Säuberung“ anheben sollte. Reflexhaft eifernd gegen „Merlin“, wie ihn Ernst Jünger nannte, wird regelmäßig jene Passage aus den „Strahlungen“ zitiert, die ihn als Parade-Kollaborateur ausweist, der die Besatzer aufstachelt, ihre Bajonette endlich gegen die Juden einzusetzen.

Weniger radikale Erwartungen spiegeln die Retrospektiven der deutschen Herrschaft über Westeuropa wider, die sich in den Beiträgen von Jean Mabire, Philippe Conrad und dem Militärhistoriker Henri de Wailly finden. De Wailly erklärt die „Schande“ des raschen Zerfalls mit der moralischen Unterlegenheit des französischen Heeres.

Deutsche als ideelle Sieger gegen die „Advokaten“

Deren Wurzeln lägen in der Unfähigkeit der politischen Klasse, die in den dreißiger Jahren glaubte, den zerbröselnden Status quo der Versailler Ordnung hinter den Betonmauern der Maginotlinie verteidigen zu können, und die der Armee das Geld verweigerte, das etwa der junge Charles de Gaulle zum Aufbau einer Panzerwaffe mit entsprechender strategischer Neuausrichtung gefordert hatte. Einen geistig-moralischen Rückhalt habe der Poilu von 1940 in einer solchen politischen Führung nicht gehabt. Hinzu seien schwere strategische Fehler gekommen wie der Vormarsch in Richtung Belgien, wo sich die britisch-französische Streitmacht durch den deutschen „Sichelschnitt“, den kühnen Panzervorstoß zur Kanalküste, untergangsreif eingekesselt fand und die paralysierte Armee auch in der zweiten Phase des deutschen Angriffs im Juni (Fall Rot) beinahe unkoordiniert zur Gegenwehr schritt.   

Als die Deutschen in Paris standen, erschienen sie vielen Franzosen nicht allein als militärische, sondern als ideelle Sieger, wie Mabire und Conrad andeuten. Das erkläre die 1940/41 weitverbreitete Bereitschaft zur „Kollaboration“ mit der Besatzungsmacht. Das deutscherseits propagierte „Neue Europa“ bot eine attraktive Alternative zur gerade durchlittenen „Herrschaft der Advokaten“. Das läßt sich an der von Antoine Baudoin präsentierten, leider die sagenhafte Chanteuse Lucienne Boyer vergessenden, illustren Galerie der Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller ablesen, die mitunter noch über die „Befreiung“ und die blutige „Reinigung“ („L‘Epuration“) von 1944/46 hinaus an dieser europäischen Vision festhielten. Deutsche Leser mag hier überraschen, daß Frankreichs Mode-Ikone Coco Chanel eine innige Beziehung mit einem SD-Offizier einging und deswegen 1944 lieber in die Schweiz auswich. Vom Filmstar Arletty, ebenfalls liiert mit einem „Besatzer“ und deswegen 1944 inhaftiert, überliefert Baudoin die kesse, die seelische Befindlichkeit ihrer Landsleute  zwischen 1940 und 1944 voltairisch-sentenziös komprimierende Antwort auf die Frage des Untersuchungsrichters nach ihrer Gesundheit: „Pas trés resistante, monsieur le juge.“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen