© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

Auf Rache und Gewalt verzichtet
Vertreibung: Eine Tagung versucht die Bedeutung der vor 60 Jahren beschlossenen Charta der Heimatvertriebenen zu ergründen
Ekkehard Schultz

Am 5. August 1950  unterzeichneten 30 Vertreter deutscher Vertriebenenorganisationen die Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Sie forderten in dem Papier neben der Gleichberechtigung in der Gesellschaft der jungen Bundesrepublik die Anerkennung eines „Rechtes auf die Heimat“. Zudem wurde ein deutliches Bekenntnis zur Schaffung eines geeinten Europas abgegeben und ein grundsätzlicher Verzicht auf Rache und Vergeltung erklärt. Gerade aus diesen Gründen gilt die Charta als Dokument der Aussöhnung und Völkerverständigung.

Andererseits wird den Vertriebenenorganisationen bis in die heutige Zeit vorgeworfen, einen einseitigen Umgang mit der Vergangenheit zu pflegen. Dabei wird häufig auch auf die Charta verwiesen, die nach Meinung der Kritiker das Leiden der Vertriebenen zu stark in den Mittelpunkt rücke und andere Opfergruppen weitestgehend ausblende.

Diese deutlichen Widersprüche bei der Bewertung des Papiers waren ebenso wie der bevorstehende 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Charta für das Deutsche Kulturforum östliches Europa ein Anlaß, sich mit der Intention und der Bedeutung des Dokumentes näher auseinanderzusetzen.

Im Mittelpunkt der Veranstaltung, die am vergangenen Donnerstag in der Französischen Kirche in Potsdam stattfand, stand die Frage nach der Definition des Begriffs Heimat. Dabei erinnerte der in Berlin lehrende polnische Historiker Robert Traba daran, daß der historische Gehalt der Bezeichnung aus der Romantik stammt. In erster Linie  definiere er jenes Gebiet, in dem ein Mensch seine Kindheit verbracht habe, seine ersten Freundschaften pflege und darüber hinaus eine grundsätzliche Geborgenheit empfinde. Dennoch sei Heimat keineswegs etwas Statisches und Unveränderliches.

Die langjährige Warschau-Korrespondentin der Zeit, Helga Hirsch, verwies auf die Heimat als den Raum der Kindheit. Wesentlich sei dabei, daß an diesem Ort die entscheidenden Prägungen erfolgten, die für das spätere Leben letztlich bestimmend seien. Selbst bei einer dauerhaften Emigration, die auf freiwilliger Basis erfolge, blieben die Erfahrungen aus diesen Jahren ein entscheidender Teil der jeweiligen Persönlichkeit.  Für die Vorsitzende des Frauenverbandes im Bund der Vertriebenen, Sybille Dreher, ist der Begriff Heimat dagegen in erster Linie mit einem Ort oder einer Region verbunden, wo die eigene Familie ihre Wurzeln besitze und oft mehrere hundert Jahre lang gewohnt und gearbeitet habe.

Bei der Einschätzung der Inhalte der Charta der deutschen Heimatvertriebenen verwies Traba auf den historischen Kontext. So sei weder die Verwendung der Bezeichnung „Charta“ ein Zufall,  noch der Zeitpunkt der Unterzeichnung. Denn zum einen sei der 5. August damals eng mit dem Potsdamer Abkommen der Siegermächte von 1945 verbunden gewesen. In diesem Sinne stelle die Charta einen klaren „Protest gegen Potsdam“ dar. Zugleich sei das Papier eine Reaktion auf das am 6. Juli 1950 unterzeichnete Görlitzer Abkommen, mit dem das SED-Regime den Grenzverlauf zwischen der DDR und Polen regeln wollten.

Dagegen mahnte Hirsch an, sich bei der Bewertung der Charta nicht nur auf Titel und Datum zu konzentrieren. Denn bereits in der Eichstätter Erklärung von 1949, die von sudetendeutschen Katholiken verfaßt wurde, sei ausdrücklich davon die Rede, auf jegliche Rache verzichten zu wollen und „lediglich Gerechtigkeit zu erstreben“. Dabei trage dieses Papier weder den Titel „Charta“, noch könne in diesem Fall eine direkte Reaktion auf das Potsdamer Abkommen unterstellt werden.

Diese Tatsachen sprächen deutlich dagegen, daß die Charta lediglich als politischer Protest interpretiert werden dürfe, so Hirsch. Deren Inhalte seien „zweifellos ehrlich“ gemeint. Gleichwohl bedeute dies nicht, daß der zeitgenössische Kontext vollkommen ausgeblendet werden könne.

So habe etwa die Betonung des europäischen Gedankens damals noch eine andere Bedeutung gehabt als in der heutigen Zeit, erläuterte Hirsch. 1950 sei darunter in erster Linie die Teilnahme an einem gemeinsamen „Kampf des christlichen Abendlandes gegen den Bolschewismus“ zu verstehen gewesen. Denn spätestens seit der Unterzeichnung des Görlitzer Vertrages sei den Vertriebenen in der Bundesrepublik bewußt geworden, daß sie ihre Ziele nur mit Hilfe des Westen durchsetzen könnten.

Dreher mahnte hingegen, sich bei einer Bewertung der Charta vor allem die konkrete Situation der Vertriebenen zu vergegenwärtigen, wie sie in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bestand. Für viele Flüchtlinge  habe die Vertreibung nicht nur den Verlust jeglicher materieller Lebensgrundlagen zur Folge gehabt. Vielmehr sei sie zugleich mit dem Tod von nahen Angehörigen, mit Vergewaltigungen und Zwangsarbeit verbunden gewesen. Doch auch nach ihrer Ankunft in West- und Mitteldeutschland waren die Vertriebenen nicht willkommen, sondern stießen häufig auf Ablehnung. Gerade unter diesen Umständen sei es wichtig gewesen,  in deutlicher Form zum Ausdruck zu bringen, „was man eigentlich wollte“. Mit dem Papier sei den Vertriebenen zum einen eine realistische Zukunftsperspektive eröffnet worden,  Zum anderen wurde damit die Gewaltspirale beendet, sagte Dreher.

Foto: Vertriebenenausstellung in Berlin (2006): Heimat als Raum der Kindheit?

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