© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/10 14. Mai 2010

Von Hunger redet hier keiner
Beethovens Schmerzenskind: „Fidelio“-Urfassung in der Komischen Oper Berlin
Jens Knorr

Ein Theater wird verschrottet, und dabei fallen den Verschrottern aus dem Sperrmüll Kleiderpuppe, Kostüme und dieses und jenes Requisit zu, dann eine echte, wenn auch reichlich angegammelte Leonore und, nach der Pause, ein echter Florestan aus dem Müllcontainer, dessen Stimme bereits im ersten Teil hin und wieder zu vernehmen war, Gott das Dunkel um ihn her klagend, vielleicht auch nur die Stimme für seine große Arie im dritten Akt aufwärmend. Aber richtig doll ernst meint es Regisseur Benedikt von Peter mit der Verschrottung ja gar nicht. Die abgeschraubten Leuchter gehören nicht zum Interieur des Saals der Komischen Oper Berlin, sondern wie Müll und Müllcontainer zum Bühnenbild Natascha von Steigers. Die Schrottbrigadisten namens Pizarro, Jaquino und Marzelline sind von Katrin Wittig verkleidete Sänger, und die wollen nicht verschrotten, die wollen nur spielen.

Aus dem Müll der Opernkonventionen gehoben werden soll „Fidelio (1805)“ – besser bekannt als „Ur-Leonore“, die dreiaktige Urfassung von Beethovens „Fidelio“, die der Theaterzettel zur Uraufführung im Theater an der Wien als „Fidelio oder Die eheliche Liebe“ ausweist – und aus dem Müll der Ideologien das utopische Potential von Beethovens Schmerzenskind.

In drei voneinander scharf geschiedenen Akten diskutiert Beethoven eheliche Gattenliebe mit einem moralischen Rigorismus, der deren heutigen Verfechtern angst und bange machen müßte, und bringt widersprüchliche Prinzipien auf engstem Raume zueinander in Stellung: Eherettung durch Ehebetrug, Glücksverheißung durch Glücksversagung. Dem Manne Beethoven war es mit der bürgerlichen Ehe dermaßen ernst, daß er sie denn auch nie einging.

Mag Hoffnungsphilosophie nirgends genauer brennen als hier – die Regie brennt ungenau. Ihre Handlungen und Bilder illustrieren Ideen, bringen aber keine hervor. Sie weisen nicht über den Einfall hinaus und müssen, wehe, statisch bleiben. Marzelline transportiert eine Schneiderpuppe als ihr Bild von Fidelio durch den Abend, ein totes Stück Requisit. Ur-Leonore legt sich zu ihrer Ur-Leonoren-Arie in ein Netz, über den Orchestergraben ausgespannt, um sich von der Musik tragen zu lassen, die selbst dann noch Hoffnung geben kann, wenn das Zusammenspiel der Bläser wenig hoffnungsfroh stimmt.

Doch woher und wohin soll sie denn hier tragen, die Musik? Die Regie läßt die Sängerin allein, und das Netz wird zur Hängematte für die Hängepartie, welche die Leonore für Ann Petersen von Anbeginn an gewesen war. Soldaten und Staatsgefangene, die zu ihrem Chor dem Container entstiegen waren, stapfen in schöner Eintracht vor und nach der Pause durch den Bühnennebel, um einer nach dem andern zu Tode erschöpft umzusinken. Schrottbrigadisten brechen in schöner Eintracht das Brot, von dem sie ja doch nicht essen. Und von Hunger redet hier eh keiner.

Beethovens Partitur muß der Regie wohl ziemlich spanisch vorgekommen sein, so daß sie sich lieber darauf verlegte, die Zeit vor, nach und zwischen den Noten mit albernem atmosphärischen Sounddesign aufzufüllen, als sich von dem Notentext auf Inszenierung festlegen zu lassen. Musikalische Zeit verplempert sie mit szenischen Nichtigkeiten.

Wo, wenn nicht in der Musik, konkretisierte sich Utopie? Und wie, wenn nicht durch die Musik und nur für den Moment ihres Erklingens, würde das schlechte Wirkliche unmöglich? Indem die Regie infantilem Palavern über Utopieverlust und Utopiegewinn verhaftet bleibt, wie es in den Neunzigern Mode gewesen war, zieht sie die Beethovensche aus dem Heute ins Gestern, ohne sie auch nur bezeichnet zu haben.

Ausgerechnet mit den Nummern der frühen Fassung, die Beethoven aus der letzten von 1814 ausgeschieden hat, weiß Dirigent Carl St. Clair weniger anzufangen als mit jenen, die wir aus der letzten kennen; von den Sängern wußte allein Will Hartmann etwas mit seiner Partie, der des Florestan anzufangen, zumindest in ihren lyrischen Teilen, und vielleicht noch Jens Larsen mit der des Rocco, der drauflos singt wie immer.

Am Ende wandern Losungen des 18. bis 20. Jahrhunderts, von der Regie ungeprüft, in den Container und leere Transparente und Fahnen durch das Publikum, zum Bemalen oder Weiterreichen, zum Dreinhauen doch wohl nicht. Pizarro umarmt Florestan, der Minister entschläft nach getanem Spruch selig in seiner Kutsche. Geduldig wartet ein echter Gaul auf seinen Abgang, und brav geht ihm kein Apfel ab. An die drei Stunden haben die auf der Bühne und im Orchestergraben uns im Saal mit dem Allgemeinplatz hingehalten, daß Beethovens „Leonore“ ihnen und uns heute durchaus noch etwas bedeuten könne. Das aber wußten wir im Saal lange vor der ersten Note, die spät genug erklang. Da wir nun schon einmal da waren, hätten wir gerne auch erfahren, was. Das rettende Trompetensignal galt nicht der Inszenierung.

Die nächsten Vorstellungen in der Komischen Oper Berlin, Behrenstr. 55–57, finden statt am 9., 14., 20., 23. und 28. Mai, am 27. Juni sowie am 7. und 17. Juli. Telefon: 030 / 2 02 60-0, Internet: www.komische-oper-berlin.de

Foto: Don Piazzaro (Carsten Wittmoser), (Rocco (Jens Larsen), Jaquino (Christoph Späth), Florestan (Will Hartmann), Marzelline (Maureen McKay), Leonore (Ann Petersen): Palavern über Utopieverlust

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