© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

„Wir kennen davon gar nichts“
Tschechische Nachkriegsgeneration beginnt nach dem Schicksal der Deutschen zu fragen
Hinrich Rohbohm

Mit lautem Knattern ziehen die Schwarzweißbilder am Betrachter vorüber. Mehrere Dutzend Männer stehen mit dem Rücken zur Kamera am Straßenrand, blicken in einen Graben. Dann fallen die meisten von ihnen plötzlich um. Rauch steigt auf, der wohl von den Gewehrsalven stammt, mit denen die Männer niedergestreckt wurden. Einige stehen noch. Kurze Zeit später fallen auch sie. Es folgt die nächste Szene. Ein Lkw rollt heran, auf die Körper der auf dem Boden Liegenden – teilweise Schwerverwundeten – zu. Der Laster gibt Gas, rollt über die Männer. Ein überlebender älterer Deutscher betet kniend zwischen den Sterbenden.

Aus Furcht die Aufnahme geheimgehalten

Das war am 10. Mai 1945 im Prager Außenbezirk Borislavka, zwei Tage nach Kriegsende. Jiri Chmelicek hatte das Massaker mit einer Amateurkamera festgehalten. Aus Furcht hielten er und später seine Tochter Helena Dvorackova die Aufnahme geheim. Nach der Wende 1989 war der Film in Vergessenheit geraten.

Bis David Vondracek kam. Der Regisseur drehte einen Dokumentarfilm über die unmittelbare Nachkriegszeit und das Schicksal der Deutschen in der Tschechei (siehe Bericht auf dieser Seite), der bereits im Vorfeld für heftige Diskussionen in Internetforen und Prager Medien gesorgt hatte.

Dennoch ist das Thema zahlreichen Pragern unbekannt. Nein, Vondraceks Film hat sie nicht gesehen, sagt eine ältere Frau auf dem Wenzelsplatz. Nach Schilderung der Vorfälle von Borislavka wird sie ungehalten, ihr Ton wird schärfer. „Die Deutschen haben nicht das Recht, uns anzuklagen. Sie haben den Krieg begonnen, nicht wir.“ – „Wir haben auch gelitten“, sagt ein anderer, der das Kriegsende in Prag als Kind miterlebt hatte. Er ist kurz angebunden, will nicht weiter darüber sprechen. „Deutsche als auch Tschechen haben die Spuren ihrer Verbrechen verwischt“, erklärt Mathilde Najdek, die als 14jährige Deutsche das Prager Kriegsende erlebte. „Ein junger Revolutionär hatte mich mit einer Peitsche geschlagen“, erinnert sie sich. Nach ihrer Vertreibung aus der Tschechei und der späteren Rückkehr nach Prag sei sie 2003 erneut als Deutsche von Tschechen bedroht worden, sagt Mathilde Najdek gegenüber der JF. Sie verließ daraufhin die Stadt zum zweiten Mal.

Die jüngeren Prager stimmen versöhnlichere Töne an. Wie etwa Suzanna. Die 23 Jahre alte Geographie-Studentin ist in Borislavka aufgewachsen. Doch daß hier in ihrer Siedlung vor 65 Jahren 42 Deutsche nach dem Kriegsende ermordet wurden, weiß sie nicht. „Darüber habe ich hier nie jemanden reden hören“, sagt sie in einem Anflug von Erstaunen und Bestürzung.

„Die Deutschen haben nicht das Recht, uns anzuklagen“

In der Schule habe man die Vertreibung der Deutschen im Geschichtsunterricht behandelt. Deutsche in Prag seien kein Thema gewesen. Aber: „Die Leute fangen allmählich an, sich für das Schicksal der Deutschen im Sudetenland zu interessieren, sie wollen wissen, wer dort vorher in den Häusern lebte.“

Auch der 22 Jahre alte Designer Matej lebt in Borislavka. Ihm sind die damaligen Vorkommnisse ebenfalls unbekannt. „Das war hier bei uns?“ zeigt auch er sich überrascht. Seine Freundin Thereza (21) schüttelt ebenfalls mit dem Kopf. Beide zeigen sich neugierig, wollen mehr wissen. „Wir kennen davon gar nichts“, sagt Thereza nachdenklich.

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