© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

Stalins Schreckensregime: Eine Serie von Andrzej Madela / Teil 2
Modernisierung mit Sklavenarbeit erzwingen
Stalin schlug mit dem Gulag-System zwei Fliegen mit einer Klappe: Billige Industrialisierung der Sowjetunion und die Vernichtung der innerparteilichen Opposition

Der rasante Anstieg der Gulag-Häftlinge in den 1930er Jahren ist nicht zufällig. Er entspricht einerseits dem gigantischen Bedarf an einer großen Menge unbezahlter Arbeitskraft, die beim Industrialisierungswerk einzusetzen ist. Andererseits schlägt sich in den Zahlen der Zufluß neuer,  hauptsächlich bäuerlicher Häftlinge nieder, die aus den ausgehungerten Dörfern Südrußlands und der Ukraine in die Straflager gelangen.

Denn auch der zweite sowjetische Modernisierungsschub vollzieht sich auf Kosten der Landwirtschaft. Diese wird nun, nach dem radikalen Bruch mit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP), ebenfalls in industrieähnliche Produktionsformen gezwängt. Wo massiver bäuerlicher Widerstand aufkommt, dort folgen  – wie etwa in der Ukraine – 1932 und 1933 staatlich organisierte Hungersnöte, denen schließlich bis zu sieben Millionen Bauern zum Opfer fallen. Ihre unmittelbare Folge ist der Schwund des Bauerntums als einer eigenständigen Volksschicht, die nun – verelendet, entmündigt und ihres Besitzes beraubt – in die staatlich verfügten Kolchosen gepreßt und an diese per Dekret sklavisch gebunden wird: die Bauern sind Mitte der dreißiger Jahre die einzige Schicht, die keine Personalausweise erhält und der somit jegliche soziale Mobilität verweigert wird.

Die gigantomane zweite Modernisierung zeitigt noch andere gravierende Folgen. So ist die Abwicklung der kleinkapitalistischen Lebensmittelindustrie gleichbedeutend mit dem Verlust der Fähigkeit zur Selbstversorgung. Da ein eigenständiges Bauerntum seit 1932/1933 nicht existiert, muß der Staat zu aufwendigen Getreideimporten und letztlich zur Einführung von Lebensmittelkarten greifen. Konsumgüter bleiben seitdem bis zum Ende der Sowjetunion Mangelware. Die innersowjetische Währung verliert angesichts der permanenten Mangelwirtschaft ihre Tauschfunktion; auf der Gegenseite wächst der Schwarzmarkt ins Unermeßliche. Gleichzeitig verschwindet die in NEP-Zeiten  gleichberechtigte Valuta als zweites Zahlungsmittel. Drakonische Arbeitsgesetze sind die Antwort auf den strukturell unterhöhlten Arbeitswillen, der zwischen der Pflicht zur Leistung und jener zur Selbstversorgung schwankt. So fördert die zweite Modernisierung eine faktische Kriegswirtschaft in Friedenszeiten.

 Stalins „Große Säuberung“ ist eine radikale Antwort auf zwei Krisen: die der Partei, in der er seinen Einfluß an die Oligarchie der alten Bolschewiki zu verlieren droht, und die der zweiten Modernisierung, deren soziale Kosten er nicht in den Griff bekommt. Beide sind strukturell geeignet, seine Position zu schwächen. Und da die kaum noch verhohlenen Sympathien der Oligarchie auf Kirow als möglichen Nachfolger hindeuten, ist auch ein gewichtiger persönlicher Antrieb da, die Funktion nicht aus den Händen zu geben.

Kaum ein anderer Fall veranschaulicht diese krisenhafte Verquickung besser als die Rjutin-Affäre. Im Jahre 1932 meldet sich der ehemalige Bucharin-Anhänger Martemian Rjutin mit einem „Appell an alle WKP(b)-Mitglieder“ zu Wort und unterzieht beide Stränge des Stalinschen Werks – die Modernisierung und die Partei – einer vernichtenden Kritik. Der Verfasser konstatiert ein hausgemachtes blamables Ende einer Industrialisierung, die eine Zwei-Klassen-Sowjetunion auf den Bauernleichen errichte. Andererseits klagt er die für korrupt gehaltene Nomenklatur der Mittäterschaft durch Stillhalten an und fordert die Basisorganisationen unmißverständlich auf, „Stalin und seine Kreaturen gewaltsam und schnell“ aus den Ämtern zu entfernen, wenn sie nicht selbst zurücktreten. Gleichzeitig ruft er die Partei auf, die alten Stalin-Rivalen Trotzki, Sinowjew, Kamenjew wieder in die Partei einzugliedern und so für eine Rückkehr zur verlorenen Parteidemokratie zu sorgen.

Stalin, der entsprechende Passagen aus dem  „Appell“ als Aufruf zum Mord interpretiert, fordert in der Politbürositzung für Rjutin die Todesstrafe – und muß feststellen, daß er für die physische Vernichtung seines Kritikers keine Mehrheit bekommt. Der leidenschaftliche Auftritt von Kirow, der manche Passage der Kritik an Modernisierungs- und Parteizustand teilt, überzeugt eine erdrückende Politbüromehrheit derart, daß Stalin lediglich von Kaganowitsch Zuspruch erhält. Seine Niederlage empfindet dieser um so schmerzhafter, weil die politische Polizei GPU sich (noch) nicht ihm selbst, sondern dem Politbüro als Ganzem verpflichtet fühlt: Die von Stalin erhoffte Liquidierung Rjutins ist ausgeblieben, die GPU hat den Fall dem Politbüro vorgelegt und dieses ihn überstimmt.

Stalin löst auf brutalste Weise die Krise in Wirtschaft und Partei

Diese empfindliche Niederlage wird 1934 auf dem XVII. Parteitag durch eine neue verstärkt. Zwar ist dieser äußerlich auf Einheitlichkeit ausgerichtet (auch ehemalige Rivalen, so  Sinowjew und Kamenjew, dürfen dabei auftreten und ihre früheren „Irrtümer“ eingestehen). Hinter den Kulissen allerdings ist die Oligarchie emsig auf der Suche nach einem neuen, unbelasteten Nachfolger. Sie drängt den populären Sergej Kirow zur Kandidatur. Dieser widersteht zwar der Versuchung – das Wahlergebnis wird für Stalin dennoch ein herber Rückschlag. Von den 1966 Delegierten votieren (ohne daß ein Gegenkandidat aufgestellt worden wäre) 292 (15 Prozent) gegen ihn – ein geradezu desaströses Ergebnis für den Führer einer kommunistischen  Partei. Zwar biegt die Wahlkommission es im allerletzten Augenblick hin und läßt nur drei Stimmen gegen Stalin gelten, doch der Imageverlust ist immens.

Vieles spricht dafür, daß der Plan zur „Großen  Säuberung“ gerade hier, auf dem „Parteitag der Sieger“, gefaßt  wurde. Ihr ging eine Doppelkrise – der Modernisierung und der Partei – voraus. Eine gemäßigte Lösung beider hätte im weitgehenden Umbau der Industrialisierungspläne und einer landwirtschaftsfreundlichen Lastenneuverteilung gelegen. Dies wäre politisch nur mit neuem, weitgehend unbelastetem Personal innerhalb der Partei glaubwürdig zu machen – ein Modell mithin, das von dem des Prager Frühlings 1968 nicht weit entfernt ist. 

Stalins Variante fiel wesentlich radikaler aus. Sie bestand darin, den politischen Teil der Doppelkrise durch die physische Vernichtung der Oligarchie zu lösen, die Modernisierung selbst hingegen zu beschleunigen (was sich auch aus den Gulag-Zahlen erschließt). Und da die Oligarchie im engeren Sinne auf etwa 20.000 bis 25.000 Posten im Partei- und Staatsapparat zu beschränken war, lief Stalins Strategie de facto auf eine Extermination der alten, elitären Kaderpartei Leninschen Zuschnitts hinaus, in der er noch einen Rest von politischer Eigenständigkeit und aufrührerischer Unbotmäßigkeit  ausmachte. Gelänge es ihm nämlich, deren bis in die dreißiger Jahre wahrgenommene Vormacht zu brechen, stünde ihm – mit den Nachfolgern der Exekutierten sowie der jüngeren Funktionärsschicht der Überlebenden – eine gänzlich andere Partei zu Gebote, in der die Nomenklatur ausschließlich ihm selbst ihren Aufstieg verdankt. Eine derart enteignete, gleichgeschaltete, gar willenlose Massenpartei stellt sich ihrem Generalsekretär nicht entgegen; sie bleibt sein Werkzeug, solange er lebt.

Fortsetzung in der nächsten JF

Foto: Zwangsarbeit im Gulag1932: Der gigantische Bedarf an einer großen Menge unbezahlter Arbeitskraft wurde durch selbständige Kleinbauern (Kulaken), gesellschaftliche und schließlich innerparteiliche Oppositionelle mehr als gestillt

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