© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/10 21. Mai 2010

Deutschland als Schicksal
Die Flagge nicht ohne Not einziehen
von Rainer Gebhardt

Während der Trauerfeiern für die Opfer des Flugzeugabsturzes bei Smolensk fragte eine deutsche Journalistin eine junge Polin, warum sie Kaczyński die letzte Ehre erweise, obwohl sie dessen Politik nie geteilt habe. Die Antwort war eine Lehre in Sachen Selbst- und Nationalstolz: „Weil ich Polin bin!“ War die Frage der Journalistin ein Unvermögen zum Stil, belegte ihr betretener Blick die Grundstruktur deutscher Befindlichkeit, sobald nationale Dinge zur Sprache kommen: Dürftigkeit und Sprachlosigkeit.

Wer die Ereignisse in Polen verfolgte, konnte noch etwas anderes lernen: Schicksal, Schicksalsgemeinschaft, nationale Erinnerungskultur, Nation als Legitimitätsmodell – diese Großbegriffe, mit denen Larsen Kempf diese Artikelreihe eröffnet hatte (JF 13/10), gehören in anderen Ländern zur Denkstruktur des Nationalen. Das relativiert den Einspruch von Frank Lisson, es habe keinen Sinn, an nicht mehr wirksame Mythenkräfte zu appellieren. Es sei denn, man würde sich auf die These einigen, Polen sei ein Anachronismus – eine These, die ebenfalls einiges für sich hat. Mit ihr ließe sich nämlich das Argument prüfen, ob es wirklich von den großen Zeitströmungen abhängt, wie sich Menschen, Staaten, Nationen tendenziell politisch verhalten. Auch, ob ein Anschmiegen an jeweilige Zeitströmungen die einzige Alternative ist, die wir haben.

Mythos, Schicksal – in Deutschland sind das abgelebte Begriffe. In Polen nicht. Da sind sie nicht einmal nur Begriffe. Hier haben sie eine Realpräsenz, um die die nationale Erzählung kreist. Entscheidend ist da nicht einmal, ob alle diese Erzählung akzeptieren, sondern daß in Ausnahmesituationen der gesamte öffentliche Erfahrungsraum von ihr beherrscht wird. Und was das Schicksal angeht, davon hat man in Polen ein sehr katholisches Verständnis. Sein Geheimnis besteht nicht in der Dynamik gewaltsamer Kausalverhältnisse, sondern in der Aufhebung der Kausalität: Die Wirkungen gehen den Ursachen voraus. Christi Himmelfahrt ist die Ursache für sein Kreuz, der Tod rechtfertigt das Leben, Katyn 2010 rechtfertigt die polnische Leidensgeschichte.

Sicherlich, uns geht diese Mystik ab. Wir bezweifeln, ob Leid-Kultur Leitkultur sein kann. Aber irgendwer sagte dann: „Wir Polen sind nicht perfekt, aber wir sind perfekt wir selbst.“ Das war nicht einmal ironisch gemeint. Es bezog sich auf etwas, das man Selbstachtung nennt. Sie hat etwas mit Widerstand gegen die Verhältnisse zu tun, auch gegen zwingend zeitströmige. Eine Tugend? Wir werden darauf zurückkommen.

Szenenwechsel: Deutschland. In der „postnationalen Konstellation“ (Jürgen Habermas) Europas wirkt das Beispiel Polen wie ein Anachronismus. Erst recht in Deutschland, wo die Selbstverständigung um Leitkultur als Krisensymptom eines rechtsanfälligen Bürgertums gelesen wird. Hier haben Berufsempörte ihrer eingewanderten Klientel Verweigerungsstrategien und Opferdramaturgien ausgearbeitet, die sie vor „Zwangsgermanisierung“ schützen. Inzwischen haben auch die Gegner deutscher Leitkultur bemerkt, daß Migranten keine homogene Masse sind, sich einzelne der Unterwerfung unter das linke Sozialarbeiter-Ethos gar verweigern. Seitdem wird an der Konstruktion eines „demokratisch gesinnten“ Gegenpatriotismus gearbeitet, an dem auch ein erhitzter Antifaschismus emsig mitstrickt. Nun sollen in Deutschland lebende Ausländer „sich mit dieser Gesellschaft und mit diesem Staat identifizieren“. Auch hier geht es um Leitkultur, nur heißt sie kulturelle Hegemonie. Und die ist in Deutschland links.

Wer heute auf den Eigenheiten nationaler Gebilde besteht, der tut es trotzdem. Er tut es in der Annahme, daß der universalistische Anspruch des Globalen nicht die Ultima ratio der Geschichte ist und das Globale nationale Gebilde voraussetzt, die es tragen.

Das offizielle Deutschland fängt mit Schuld an und hört mit Scham auf. Unser Schicksal, haben wir gelernt, ist immer das Schicksal der anderen. Wer zum „Tätervolk“ gehört, wer sämtliche negativen Zuschreibungen verinnerlicht hat, muß sich, wenn er Anschluß an die Gemeinschaft der Guten sucht, mit den Opfern identifizieren. Die Alternative wäre, die Rolle des Teufels zu geben: Ja, wir sind das Böse. Und wir sind es, damit ihr gut sein könnt. Sympathy for the Devil: „Pleased to meet you. Hope you guessed my name.“ Dialektik in der Popvariante. Das ist verlockend. Aber wer will schon ewig in einem Spiel mitspielen, von dem er weiß, daß er immer die Arschkarte haben wird. Wir sehnen uns nach dem Guten, zumindest danach, zu den Guten zu gehören. Weil das aber ohne Fiktion nicht möglich ist, haben wir einen säkularen Mythos erfunden, eine Art historischer Reset-Taste: die Stunde Null. Was vor diesem Datum liegt, ist schlimmes Vorspiel der Götterdämmerung.

1989 sah das für einen historischen Moment anders aus. Im Ostteil Deutschlands ging die Einheitseuphorie mit einem starken, fast unschuldigen Bekenntnis zur Nation einher. Inzwischen haben auch die früheren DDR-Bürger gelernt, daß die Negativierung der Nationalgeschichte zum politisch korrekten Identitätshaushalt gehört. Unterstützt wurde der „Lernprozeß“ mit dem fatalen Angebot an die Mitteldeutschen, sich als Opfer zu verstehen. Opfer dürfen Ansprüche haben, sie werden getröstet und versorgt. Das schläfert ein. Wenn man aufwacht, haben die Tröster das Kommando übernommen. Anstatt der Zudringlichkeit des vorsorgenden Sozialstaats erst einmal mit Skepsis zu begegnen, bestaunte man dessen Potenz. „Wir haben das Glück erfunden!“ verkündete Aldi. „Wir haben den Anspruch aufs Glück erfunden!“ rief der Wohlfahrtsstaat und ermittelte die Trostbedürftigkeit der „Ossis“. Das war kein Plädoyer für Stolz oder Autonomie, sondern der Vorschlag, sich in eine neue Hilflosigkeit einzuüben. Ihn nicht durchschaut, ihn angenommen zu haben, dürfte zu den Ursachen gehören, warum die Mitteldeutschen heute mit einem weinenden und einem lachenden Auge auf die Geschichte blicken: „Wir haben uns in der Euphorie den Schneid abkaufen lassen.“ Es ist eine spezifische Trauer, sie verflucht das Provisorische, Halbfertige, Unmögliche, Aussichtslose des kommunistischen Projekts und weiß doch zugleich, daß man seine Herkunft, seine Geschichte nicht abschütteln kann.

Themawechsel: Globalisierung und Identitätsreklame. Die alten Mythen ziehen nicht mehr. Nun lullen uns neue Mythen ein. Globalisierung ist der best­akzeptierte. Er ist die Wirklichkeit schlechthin. Aber was bedeutet er? Auf den einfachsten Begriff gebracht: Globalisierung ist Vernetzung. Nur: Das globale Netzwerk besteht aus gerade einmal vierzig Städten, von denen nur wenige als Finanzzentren die heißen Knoten bilden. Hier sind die Kommandobrücken des Globalen. Von hier aus werden die Kapital- und Finanzströme in Bewegung gesetzt. Dieses Netz schafft etwas, das man augmented reality nennen könnte, einen Mix aus virtueller und echter Welt. Anders gesagt: Das Netz generiert die Welt als Datensatz. Der Zugriff darauf macht den konkreten geographischen Raum nicht nur überflüssig – im Globalisierungsprozeß ist er ein Hindernis. Die „Intimität“ des Regionalen, des Nationalen, die Besonderheit geographischer, kultureller oder sonstwie verstandener Gemeinschaften verträgt sich weder mit der globalen ökonomischen Verflechtung noch mit dem Universalismus ihrer Agenturen – den modernen Staaten. Deren mächtiger werdende Exekutive unterläuft die Legislative, indem sie nationale Interessen von der Agenda nimmt, also die Instrumente bereitstellt, mit denen der Nationalstaat ausgehebelt wird. Wer unter diesen Bedingungen auf den Eigenheiten nationaler Gebilde besteht, der tut es trotzdem. Er tut es in der Annahme, daß der universalistische Anspruch des Globalen womöglich nicht die Ultima ratio der Geschichte ist und das Globale, anders als angenommen, nationale Gebilde voraussetzt, die es tragen. Auch an weltbürgerliche Komplexität geknüpfte Heils­erwartungen wird er bezweifeln. Denn es ist längst nicht ausgemacht, ob mir am Times Square, auf der Croisette oder im Netz mehr Welt, mehr Freiheit zuströmt als in irgendeinem Kaff in der Uckermark oder den Karpaten.

Wer heute nach nationaler Identität fragt, tut gut daran, historisch nicht zu weit auszuholen, die geistigen Grenzen nicht zu eng zu ziehen (Baal Müller in JF 18/10). Nur, was bleibt, wenn man sich von der Vorstellung einer allen gemeinsamen, allen verständlichen großen Erzählung verabschiedet? Die Antwort geben uns Marketing-Experten: Da Identitäten heute kurzfristig hergestellt und verbraucht werden, geht es nicht mehr um Nationen, sondern um Nation-Branding, um Deutschland als Funktionsmarke.

Weil es aber das besondere Merkmal von Funktionsmarken ist, keine besonderen Merkmale zu haben, muß man „Identitätsangebote kommunizieren“. Zum Beispiel so: „Du bist Deutschland!“ Das war vor vier Jahren, vor der letzten Fußball-WM. Damals hatte die GEW Hessen vor dem Singen der deutschen Nationalhymne gewarnt. Angesprochen waren alle, die nicht mehr so recht wissen, was sie auf die Frage „Was ist Deutschland?“ antworten sollen oder dürfen. Der Staat, das war die geheime Botschaft dieser Massentaufe, hat sich von den Bürgern emanzipiert. „Du bist Deutschland!“ – das heißt: Wir haben die Verantwortung an dich abgegeben. Der vollkommene Rollentausch also, die Parodie des Nationalen.

Noch einmal zum Prozeß der deutschen Einheit: Er bringt Licht in unsere unheroische Gegenwart. Die Mitteldeutschen, heißt es, waren enttäuscht vom Westen. Warum sollen sie enttäuscht gewesen sein? Nach 40 Jahren Kommunismus, in denen sie auf der Flamme ewig unbefriedigter Bedürfnisse geschmort hatten, explodierte die Welt in einem Warenrausch. So viele schöne Dinge auf einmal, und so viele unnütze. Enttäuschung? Nein, eher Verwunderung. „So also ist das“, sagten sie und rieben sich die Augen, „das meiste besteht aus Verpackung, ist Reklame.“ Das waren Erkenntnisse, zu denen man durch reine Anschauung kam. Wer den Mechanismus von Angebot und Nachfrage begriffen hatte, hatte beinahe alles begriffen.

So problematisch der Zugriff auf Begriffe wie Schicksal, Gemeinschaft, Tradition, Mythos ist, so dringlich ist die Wertschätzung jenes Eigenen, das wir uns selbst, das auch andere uns zuschreiben. Ohne Selbstachtung wird man Zuschauer der Geschichte.

Wenn es etwas spezifisch Mitteldeutsches gab, so bestand in einem Land, dessen Elite von sich behauptet, die Bundesrepublik 1968 neu gegründet zu haben, jedenfalls keine besonders große Nachfrage danach. Das preußisch-protestantische Erbe Mitteldeutschlands war ein Makel. Dabei hatte schon die Preußen-Renaissance in der DDR bewiesen, daß sich mit einer internationalistischen/globalen Ethik kein Staat machen ließ. Wer über das „vierzigjährige Wunder DDR“ und das „Gute an ihr“ spekuliert, sollte vielleicht einrechnen, daß der Saustall des Kommunismus ohne ein Volk mit ein paar preußischen Tugenden noch ungemütlicher gewesen wäre. Und am Ende waren es preußische Tugenden, die die Diktatur den Hals, die Diktatoren aber nicht den Kopf gekostet haben: Tapferkeit und Mäßigung.

So problematisch der Zugriff auf Begriffe wie Schicksal, Gemeinschaft, Tradition, Mythos ist, so dringlich ist die Wertschätzung jenes Eigenen und Eigentümlichen, das wir uns selbst, das auch andere uns noch zuschreiben. Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Treue, Standhaftigkeit, Mut, Disziplin, Widerspruch ertragen können, Schmerzfreiheit, Redlichkeit – einen Begriff davon und ein Gefühl dafür zu haben, heißt, fast alles Überlebensnotwendige zu besitzen. Auch dann, wenn diese Tugenden nicht gefragt sind. Sie verinnerlicht zu haben, sich in diesem „Eigenen sicher fühlen“ (Margret Boveri), hat etwas mit Selbstachtung zu tun, mit dem Selbstwertverständnis eines Landes als Nation. Wer dieses „Angebot“ nicht machen kann, den wird kein Nachbar und kein Gast, auch kein Immigrant respektieren können.

Unser Handlungsspielraum besteht nur innerhalb der vorhandenen Bedingungen (Frank Lisson, JF 15/10). Die Schwierigkeiten beginnen aber, sobald man in diese Bedingungen eingreifen will. Es ist ja nicht der Hegelsche Weltgeist, der uns an den Fortschritt nagelt. Viel mehr als systemische Sachzwänge sind die Bedingungen von Menschen gemacht, ohne daß sie genau wüßten, was sie tun. Wie wenig die Bedingungen bekannt sind, belegt eine Politik, in der Umfragen die Entscheidungen und Tests die Strategien ersetzen. Selbstachtung als Überlebenskunst: Da wir die Lage nicht kennen, nicht wissen, was uns auf der globalen Fahrt noch bevorsteht, sollten wir die Flagge nicht ohne Not einziehen. Vor allem sollten wir nicht über Bord werfen, was uns durch kommende Krisen bringen könnte. Geld kann man nicht essen, Verträge nicht einklagen. „In der Wüste bin ich das wert, was meine Götter wert sind.“ (Antoine de Saint-Exupéry)

Ohne Selbstachtung wird man zum Zuschauer der Geschichte, in der einem andere ständig die Sünden vorrechnen. Vor allem, wenn es ans Bezahlen geht. Selbstachtung wäre es, das Vergnügen an der Schuld abzuwerfen. „Verzeihe dir dein eigenes Ich!“ sagt Nietzsche. Versöhnung mit sich selbst statt der neudeutschen Sucht, anderen um jeden Preis zu gefallen. Es geht also nicht darum, ob sich Kopftuchträger, Gender-Desorientierte, Antifaschisten und andere beleidigte Leberwürste bewußt werden, in einer Nation zu leben, die ihnen das Recht auf Anders-Sein garantiert, sondern darum: nicht in die Verlegenheit zu geraten, sich eines Tages vor ihnen rechtfertigen zu müssen.

 

Rainer Gebhardt, Jahrgang 1950, studierte Philosophie in Jena. Nach freier Mitarbeit in verschiedenen Verlagen war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Goethe-Nationalmuseum in Weimar. 1983 erfolgte die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und Ausreise aus der DDR. Seitdem ist er als Texter für Werbeagenturen, Kommunikationsberater für Großunternehmen und als freier Autor tätig.

Foto: Deutsche Fahne auf dem Reichstagsgebäude: Selbstachtung hat etwas mit Widerstand gegen die Verhältnisse zu tun, auch gegen zwingend zeitgeistströmige.

Wie steht es um unser Zusammengehörigkeitsgefühl als Volk? Kann uns der Begriff der Schicksalsgemeinschaft heute überhaupt noch etwas sagen? Nach Larsen Kempf, Frank Lisson und Baal Müller meldet sich im vorliegenden vierten Beitrag der Artikelreihe auf dem Forum, die thematisch um unser kollektives Schicksal als Nation kreist, der Philosoph Rainer Gebhardt zu Wort.  (JF)

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen