© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/10 28. Mai 2010

Griechische Verhältnisse
USA: Kalifornien ist auf dem Weg in die Staatspleite, doch die dortigen Probleme sind nur bedingt mit denen in Europa zu vergleichen
Elliot Neaman

Wäre Kalifornien ein eigenständiges Land, dann zählte es zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt. Die rund 37 Millionen Einwohner erwirtschaften etwa ein Siebtel der gesamten US-Wirtschaftsleistung. Der Wohlstand ist nicht nur Hollywood oder dem Mekka der Elektronik- und Computerindustrie (Silicon Valley) zu verdanken. Auch Branchen der old economy wie der Bergbau oder die wetterbegünstigte industrielle Landwirtschaft tragen dazu bei.

Dennoch ist der 1850 zu den USA gekommene drittgröße Bundesstaat seit längerem in ernsten Schwierigkeiten. Im Bemühen, ein Haushaltsloch von 19,1 Milliarden Dollar zu stopfen, hat der republikanische Gouverneur Arnold Schwarzenegger nun Kürzungen im Gesundheits- und Sozialwesen angekündigt. Da in der kalifornischen Legislative die Demokraten die Mehrheit haben, dürfte die zur Verabschiedung des Sparhaushalts notwendige Zweidrittelmehrheit aber kaum zustande kommen.

In Los Angeles, der größten Stadt, liegt die Arbeitslosigkeit bei 12,6 Prozent und das Haushaltsdefizit bei knapp 700 Millionen Dollar. Die Kosten für die Renten- und Krankenversicherung der Stadtangestellten werden in den kommenden vier Jahren voraussichtlich um 2,5 Milliarden Dollar ansteigen. Der frühere Bürgermeister Richard Riordan prophezeit der Stadt spätestens für 2014 den Bankrott.

Wenn Kalifornien ein eigenständiger Staat wäre und nicht im Notfall um Finanzhilfe aus Washington ersuchen könnte, befände es sich eigentlich in derselben Lage wie Griechenland. Aber eben darin liegt der Hauptunterschied zwischen der US-Finanzkrise, die mit der Lehman-Pleite im Herbst 2008 begann, wie ein Waldbrand um sich griff und beinahe die gesamte Wirtschaft vernichtet hätte, und der gegenwärtigen Krise in Europa. Auch sie begann in einem entlegenen Winkel der EU und droht nun verheerende Ausmaße anzunehmen.

Anders als das nur auf Geschichte, Tourismus und der Schiffahrtsbranche aufgebaute Griechenland wird Kalifornien seine derzeitigen Finanzsorgen überwinden, ohne die übrigen US-Bundesstaaten in Mitleidenschaft zu ziehen. Denn zum einen erhält es einen großen Anteil seiner Finanzmittel aus Washington, vom Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen bis hin zum Straßenbau. Zweitens wird die Zentralregierung auch helfen, das Haushaltsloch zu stopfen. Daß die EU nicht über die finanzpolitischen Mittel und die zentralisierte Macht der Washingtoner Regierung verfügt, wurde ihr bislang eher zugute gehalten, sprach es doch dafür, daß es in einer überstaatlichen Gemeinschaft mit 27 Mitgliedern gelungen war, Reste von nationaler Eigenständigkeit zu bewahren.

Die aktuelle Krise hat dem europäischen Normalbürger schmerzlich ins Bewußtsein gerückt, daß die Globalisierung nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine moralische und kulturelle Abhängigkeit mit sich bringt. Das Arbeitsethos und das Ausmaß der Korruption im kleinen Griechenland wirken sich plötzlich auf die deutsche Haushaltsplanung aus.

Am intelligentesten ließe sich das Problem lösen, indem man diejenigen Staaten mit den größten Finanzproblemen – neben Griechenland auch Portugal, eventuell Irland und Spanien – aus der Euro-Zone entließe, damit sie ihre Nationalwährungen wieder einführen und dann abwerten könnten. Oder Griechenland sollte schlicht seine Zahlungsunfähigkeit erklären. Ähnlich wie beim Bankrott einer GmbH wäre dadurch die Währung nicht gefährdet – die einzigen Verlierer wären die Gläubiger. Statt Griechenlands Zahlungsunfähigkeit aber als Staatspleite zu behandeln, sind die EU-Führungseliten aus ideologischer Verblendung bereit, die schwächeren Staaten mit mehr oder weniger unbegrenzten Kreditzusagen zu unterstützen, die sie ihrerseits mit geliehenen Geldern finanzieren müssen.

Über das Schicksal des Euro werden letztlich die Finanzmärkte bestimmen  (JF 20/10). Wertpapierhändler sind nicht die Dämonen, zu denen sie von Politikern aufgebauscht werden, die lieber den „Spekulanten“ die Schuld zuschieben, statt darüber zu reflektieren, inwieweit ihr eigenes Handeln oder Nicht-Handeln die Probleme herbeigeführt hat. Sie beurteilen lediglich die Kreditwürdigkeit eines Schuldners und lassen sich dabei weder von Gefühlen noch von politischen Erwägungen leiten. Nun sind sie zu dem Schluß gekommen, daß Griechenland kaum in der Lage sein wird, seine Schulden zurückzuzahlen. Die Mehrzahl der entwickelten Länder lebt schon viel zu lange über ihre Verhältnisse von billigen Krediten, Schulden und einer Illusion des Wohlstands, die auf einer Blase nach der anderen aufbaut.

Die Geschichte lehrt, daß in wirtschaftlichen Krisenzeiten nicht nur die Ränder, sondern auch die gesellschaftliche Mitte radikalisiert wird. In den USA nimmt diese Reaktion die Form der „Tea Party“-Bewegung an, die Rettungspakete für eine Verschwörung hält, mit der die Regierung auf Kosten der Steuerzahler den Reichen und Mächtigen hilft. Stichwortgeber wie Sarah Palin und Glenn Beck heizen den libertären Pöbel zum heroischen Kampf „echter Amerikaner“ gegen die Eliten und die Regierung auf (16/10). Paradoxerweise befürworten aber sogar solche selbststilisierten konservativen Anarchisten eine stärkere Regulierung der Wall Street und sehen überall wirtschaftliche und politische Verschwörungen.

In Europa greifen die Führungseliten mangels besserer Ideen auf kontraproduktive politische Maßnahmen wie eine verschärfte Regulierung, Steuererhöhungen, mehr staatliche Kontrolle über die Märkte zurück. Währenddessen hält die Linke stur an ihren Forderungen nach einer Besteuerung von Finanztransaktionen und einem garantierten Mindestlohn fest, obwohl derartige Maßnahmen im Laufe der Geschichte immer nur zu höherer Arbeitslosigkeit geführt haben.

Die Ungewißheit über die Zukunft hat sowohl in Europa wie in Nordamerika eine Stärkung der Zentralmacht bewirkt. Der US-Kongreß berät derzeit über einen im Eilverfahren eingebrachten Gesetzentwurf zur Regulierung der Finanzmärkte. Zweifelsohne enthält er auch einige vernünftige Maßnahmen neben anderen, die sich negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken oder unbeabsichtigt schwerwiegende Folgen zeitigen werden.

Daß die Bankenkrise 2008 von Institutionen ausging, die bereits einem strengen Regulierungswerk unterworfen waren, scheint vollkommen in Vergessenheit geraten. Auch die greichsichen Wertpapiere wurden en masse von hochregulierten europäischen Banken gekauft. Die europäischen Staaten mit den schwersten Problemen haben aufgeblähte Staatsapparate, deren Personal garantierte Pensionsansprüche und andere Privilegien genießt, die die Haushaltskassen überlasten. Trotzdem wird nirgendwo ernsthaft überlegt, wie sich der Staat verschlanken ließe.  Auch Griechenland verdankt seine mißliche Lage zu einem erheblichen Teil seiner Bürokratie, in der ein überproportionaler Prozentsatz der Erwerbstätigen beschäftigt ist. Junge Griechen träumen nicht davon, sich als Unternehmer zu bewähren, sondern sie wollen Beamte werden. In Kalifornien, das doch angeblich an der Spitze des technologischen Fortschritts steht, sieht es gar nicht so anders aus. Daß Schwarzenegger seine Haushaltsbilanz nicht ausgleichen kann, liegt auch an der traditionellen Stärke der Gewerkschaften, in denen die Regierungsangestellten organisiert sind, die die Wählerbasis der seit Jahrzehnten dominanten Demokraten ausmachen.

Überall auf der Welt haben Regierungen sich finanziell überdehnt und können staatliche Leistungen, an die sich die Bürger längst gewöhnt haben, nicht länger bezahlen. Seit die Bourbonen Frankreich an den Rand des Ruins brachten, hat Europa keine politische Krise von vergleichbaren Dimensionen erlebt. Wie es damals ausging, ist bekannt: mit einer Revolution, aus der ein weit mächtigerer und stärker zentralisierter Staat entstand, als ihn sich irgendein absolutistischer Herrscher hätte träumen lassen. Das Ironische daran ist, daß das wütende Volk den Politikern und Bürokraten in Washington und Brüssel letztlich noch mehr Macht verschafft hat, die das Chaos großenteils selber verschuldet haben.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

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