© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

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Christian Wulff: Der Kandidat von CDU/CSU und FDP geht ein hohes persönliches Risiko ein
Christian Vollradt

Alle wollen wie Wulff sein.“ Es war nicht als Kompliment gemeint, was der Politikwissenschaftler Gerd Langguth vor knapp fünf Jahren über den typischen CDU-Politiker feststellte, indem er den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff zum Prototypen erkor. Vielmehr sei dieser Umstand sinnbildlich für die „geistige Verarmung“ der Union, in der „Profillosigkeit zum Programm erklärt“ werde und die damit aufhöre, Volkspartei zu sein. Denn zu einer solchen gehörten eben streitbare Charaktere wie Norbert  Blüm, genauso aber auch „gestandene Konservative, Leute wie Alfred Dregger und Wilfried Hasselmann“. Heutzutage träten nur noch „Mainstream-Politiker“ auf, von denen jeder „bloß die Mitte darstellen will“, kritisierte Langguth – und zielte damit eben auf Leute wie Wulff.

Die scharfe Abrechnung fand vor dem Hintergrund der Bundestagswahl 2005 statt, die nicht die erhoffte bürgerliche „Wende“, sondern nur die Große Koalition gebracht hatte; und der CDU in Wulffs Stammland Niedersachsen magere 33,6 Prozent bescherte. Im Februar 2003 hatte Wulff im dritten Anlauf die Staatskanzlei in Hannover von den Sozialdemokraten erobert. Mit einem Wahlergebnis von über 48 Prozent im Rücken wurde er der jüngste Ministerpräsident Niedersachsens – und war doch einer der letzten aus der Reihe der „jungen Wilden“ der CDU, die es an die Spitze eines Bundeslandes gebracht hatten.

Keine konservative Bildungspolitik

Wulffs Aufstieg ist Ergebnis einer tiefgreifenden Krise der Niedersachsen-CDU: 1990 unterlag die Union mit Ministerpräsident Ernst Albrecht in der Landtagswahl Gerhard Schröders SPD.  In der Folgezeit wurde der junge Osnabrücker Rechtsanwalt Wulff mit massiver Unterstützung seines katholisch dominierten Bezirksverbands in Stellung gebracht. 1994 trat Wulff als Spitzenkandidat an, verlor und wurde Fraktions- sowie Landesvorsitzender. Vier Jahre später unterlag er erneut dem Dauerrivalen Schröder, der die Landtagswahl zu einem Plebiszit für die SPD-Kanzlerkandidatur gemacht hatte.

Mit seiner 2003 gebildeten und 2008 erneuerten schwarz-gelben Koalition machte Wulff seinem Ruf, Sachwalter des Mainstream zu sein, alle Ehre. Die Abschaffung der Bezirksregierungen verkaufte er als Verwaltungsreform, mit der Schließung der Orientierungsstufe beendete er ein langjähriges, sozialdemokratisch motiviertes Schulexperiment – ohne freilich das Bildungswesen im konservativen Sinne umzubauen. In dieses Bild paßt auch der Umstand, daß Wulff als „Entdecker“ der Quereinsteigerin Ursula von der Leyen fungierte. Dennoch vermochte es Wulff immer wieder, Konservative  für sich einzunehmen. Meist jedoch blieben seine Volten auf politische Nebenkriegsschauplätze beschränkt. 2004 forderte er in drastischer Wortwahl die Rücknahme der Rechtschreibreform: Sie sei auf ganzer Linie gescheitert. Auch ging er als eines der wenigen CDU-Vorstandsmitglieder die Kohl-Regierung hart an, weil sie an den mitteldeutschen Enteignungen zwischen 1945 und 1949 festhielt. In dieser Täuschung sah Wulff einen „Glaubwürdigkeitsverlust der Union als Rechtsstaatspartei“, der 1998 die CDU-Niederlage im Bund mitverursacht habe.

Einsatz für das Zentrum gegen Vertreibungen

 Der überzeugte Katholik opponierte gegen den fragwürdigen Abtreibungskompromiß, dem die Union mehrheitlich zugestimmt hatte. Er plädierte im Frühjahr 2009 vehement für die Nominierung Erika Steinbachs für die Vertriebenenstiftung (unter anderem, weil andernfalls „nur die radikalen Rechten“ stark gemacht würden) und holte nach seinem Amtsantritt 2003 das Deutschland-Treffen der Schlesier, die unter der SPD-geführten Landesregierung aus Hannover geekelt worden waren, wieder in die Leinestadt zurück. Und im Jahr 2000 hatte Wulff als Oppositionsführer sein Plädoyer für eine „98er-Bewegung“ in Umlauf gebracht: Eine Abkehr von der 68er-Generation bedeute, Probleme lösen und nicht lediglich diskutieren zu wollen, verbunden mit einer höheren Wertschätzung von Erziehung und der Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Freiheit und Pflicht gegenüber dem Staat.

Natürlich muß mit der Nominierung Wulffs zum Präsidentschaftskandidaten auch wieder in den Medien jener berüchtigte „Andenpakt“ einiger CDU-Granden bemüht werden. Dieser hat sich nun entweder wieder einmal gegen die Parteivorsitzende und Kanzlerin Angela Merkel endgültig durchgesetzt, indem er ihre angebliche Wunschkandidatin Ursula von der Leyen madig machte – oder er ist wieder einmal am Ende, weil er nach dem Abgang Kochs und dem Ende der Kanzleranwartschaft Wulffs endgültig machtlos dasteht.

Der mythen­umrankte Pakt ist im wesentlichen ein inoffizieller Verein zur innerparteilichen Karriereförderung auf Gegenseitigkeit. Er verbindet diejenigen westdeutschen männlicher Juristen, die von Mitte der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre den Grundstein für ihre Laufbahn als Berufspolitiker legten. Einer ihrer Prominentesten ist Christian Wulff, der als von 1978 bis 1980 amtierender Bundesvorsitzender der Schüler Union sozusagen Gründungsmitglied ist. Selten wird bei allem Geraune um die christdemokratische Seilschaft ein Aspekt berücksichtigt, der hinter dem vordergründig ulkigen Gründungsakt mit der programmatischen Aussage „Für mehr Spaß in der Politik“ verborgen liegt. Denn die juvenile Entourage des damaligen JU-Bundesvorsitzenden Matthias Wissmann hatte nicht ohne Hintergedanken den Betriebsausflug nach Süd­amerika unternommen. Die Besuche entlang der Anden dienten nicht nur der Kontaktpflege, sondern waren auch ein Signal nach innen. Denn unter dem Eindruck der autokratischen Regime und Militärdiktaturen hatten sich die dortigen Christdemokraten wesentlich weiter links positioniert als die in Europa. Wulff mußte angesichts dieser Reise eine besonders heikle Aufgabe nach innen erfüllen, da es seinerzeit in der Schüler-Union starke Tendenzen für eine „Renaissance der konservativen Idee“ gab. Wissmann unkte damals, im Schülerverband gebe es lautstarke Mitglieder, denen die CDU zu lasch sei. „Die Vorstellungen dieser Leute lehnen wir kategorisch ab“, versicherte Wissmann im Spiegel. Die „Gefahr“ eines Rechtsrucks im Verband bestand am Ende von Wulffs Zeit als SU-Vorsitzender nicht mehr.

Konziliant nach außen, knallhart nach innen – so beschreiben Kenner die Amtsführung des 50 Jahre alten Politikers. Wulff gilt als nachtragend, besonders wenn es gilt, innerparteiliche Widersacher zur Räson zu bringen. Daß er Entscheidungen gerne im kleinen Kreis bespricht und allein trifft, sorgte immer wieder für Verärgerung in Fraktion und Partei. Wie zuletzt bei der Berufung der türkischstämmigen Ministerin Aygül Özkan, die er genauso bis zum Schluß geheimgehalten hatte wie seine Bewerbung für das Präsidentenamt.

In einem Interview äußerte Wulff, ihm fehle der absolute Wille zur Macht, er sei dagegen gerne und möglichst noch lange Ministerpräsident. Die Entschlüsselung des Subtexts dieser Aussage brachte freilich das Gegenteil zutage: Wulff ist amtsmüde und sucht neue Herausforderungen. In der Partei stieß diese offenkundige Unlust des Ministerpräsidenten sauer auf. Manche erklärten sie mit den Veränderungen in Wulffs Privatleben, die ihn schon 2008 dazu gebracht hatten, den Landesvorsitz abzugeben.

Aber selbst bezüglich seiner Frauenbeziehungen blieb der wiederverheiratete Wulff im Grunde genommen eben doch ein Biedermann. Denn während andere politische Alpha-Männchen mehr oder weniger offen eine Dreierbeziehung mit ihrer Ehe- sowie einer Nebenfrau führen, sorgte Wulff für einen – medial transparent gemachten – Schnitt. Die Ex-Frau erhielt die Scheidung, die Freundin das Ja-Wort, der gemeinsame Sohn noch vor der Geburt einen legalen Vater und die Tochter aus erster Ehe ein Pferd. Selbst das „Verruchte“ der jungen Neu-Gattin, die über ein Tattoo verfügt, mildert der Landesvater mit dem Hinweis ab, Tätowierungen seien so alt wie die Menschheit – will heißen: irgendwie doch auch konservativ.

Wulffs Karriereschritt ist nicht ohne Risiko. Sollte mit Ablauf dieser Legislaturperiode die schwarz-gelbe Koalition enden und die Mehrheit im Bundesrat verlorengehen, wäre seine Wiederwahl in fünf Jahren unwahrscheinlich. Wulff könnte dann nicht nur als jüngster Bundespräsident, sondern auch als jüngster präsidialer Ruheständler in die Geschichte eingehen. Enge Vertraute aus Wulffs Heimatverband Osnabrück sollen ihn daher bekniet haben, Merkels Angebot abzulehnen.

Foto: Präsidentschaftskandidat Christian Wulff (CDU): „Proffillosigkeit zum Programm erklärt“

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