© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/10 11. Juni 2010

Kritiken aus einer virtuellen Welt
Die rätselhafte kubanische Bloggerin Yoani Sánchez gibt die Situation in ihrem Heimatland ebenso kritisch wie realistisch wieder
Paul Leonhard

Der „Generation Y“ hat die kubanische Philologin Yoani Sánchez ihr Internettagebuch gewidmet: jenen Yanisleidis, Yadiras, Yamiras, Yamiles, Yoandris, Yunieskys, die wie Kubas prominenteste Bloggerin im Kuba der siebziger und achtziger Jahre geboren wurden. Eine Generation, deren Kindheit und Jugend noch in einem aufstrebenden Land stattfand, das sich dank Millionen-Überweisungen aus dem sozialistischen Lager viele soziale Errungenschaften leisten konnte. Die heute 35jährige Sánchez erlebte, wie sich das Leben radikal veränderte, als Revolutionsführer und Übervater Fidel Castro 1990 die „Período especial en tiempos de paz“ ausrufen mußte, die Sonderperiode in Friedenszeiten, eine bis heute das ganze Land lähmende Krise. „Wir wurden von Landschulaufenthalten, russischen Zeichentrickfilmen, illegalen Ausreisen und Frustration geprägt“, schreibt sie am Beginn ihrer Eintragungen.

Das Problem ist nur, daß die Angesprochenen weder von der Existenz von Yoani Sánchez wissen noch von ihrem Tagebuch und überdies kaum eine Ahnung haben, was ein Blog ist, überdies keinen Computer, geschweige denn einen Internetzugang besitzen. Kubas bekannteste Bloggerin ist unbekannt im eigenen Land, Yoani Sánchez schreibt also vor allem für sich, eine Handvoll Freunde in Havanna und das Ausland. Seit April 2007 tut sie das. Auch jenseits der Karibik wird sie gelesen. Denn ihre Tagebucheintragungen werden in elf Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche. Und das sogar ganz schnell, meistens nach ein, zwei Tagen ist der aktuelle Eintrag nachlesbar.

Sánchez, die im Zentrum Havannas nahe des Platzes der Revolution und damit des kommunistischen Machtzentrums in einem Hochhaus wohnt, erzählt vor allem von ihrem Alltag, der dem der meisten Kubaner gleicht: der tägliche Kampf um Lebensmittel, um Waschmittel und Medizin, die Ohnmacht gegenüber korrupten Behörden, die Angst vor der Bespitzelung, die Jagd auf Devisen oder wenigstens nationale Pesos. Sie sieht die bröckelnden Fassaden, den Betrug an den Touristen, den Diebstahl aus Hotels und Betrieben. An vielen Tagen schreibt sie ein Loblied auf das Improvisationsvermögen der Kubaner, ihre Schlitzohrigkeit und den unverbrüchlichen Optimismus – so etwa wenn junge Frauen versuchen, aus Stoffresten eigene modische Kleidung zu entwerfen. Sie berichtet von den Tele-Klassen, in denen die Schüler mangels Lehrer allein vor dem Bildungsfernsehen sitzen, von der Reparatur des sowjetischen Fahrstuhls, die sich Monate hinzieht und sie zwingt, bis in den 14. Stock Treppen zu steigen, vom Wohnungsmangel und dem Schwarzmarkt. Und sie stellt die Frage nach dem Warum: Warum muß ein von der Natur so gesegnetes Land wie Kuba Obst und Gemüse importieren? Oder Zucker?

Und Yoanis Sánchez studiert die nationale Presse. Sie versteht die Kunst, zwischen den Zeilen der Partei- und Verbandszeitungen Granma oder der Juven­tud Rebelde zu lesen. Hier sind die leichtesten Vibrationen im Apparat der Partei- und Staatsführung der Gebrüder Castro für sensible Menschen spürbar.

Havanna ist heute das Ost-Berlin der Jahre nach 1985. Es gibt eine wache kulturelle Szene, zahlreiche Filmfestivals, Oppositionsgruppen. Das unterscheidet die kubanische Hauptstadt von der anderen großen Stadt Kubas, dem östlich gelegenen Santiago de Cuba. Havanna bietet weit mehr Möglichkeiten, auch was den Kontakt mit Ausländern betrifft. Die Bloggerin lebt als selbständige Spanischlehrerin für Touristen. Und sie lebte ab 2002 für zwei Jahre im Ausland, ehe sie nach Kuba zurückkehrte. Wer weiß, wie schwer es ausländische Botschaften Kubanern selbst bei geklärten finanziellen Verhältnissen machen, in ihr jeweiliges Land einzureisen, gerät hier ins Staunen. Für wen arbeitet Yoani Sanchez? Diese Frage wird der Philologin offenbar so oft gestellt, daß sie in einem Eintrag auf sie eingeht: für den kubanischen Geheimdienst G2, für den amerikanischen, für den spanischen? „Ich denke nicht daran, auch nur einen Beweis zu liefen, der die Anschuldigungen negiert, ich sei eine ‘Infiltrierte’. (...) Jeder – wenigstens im kleinen Raum dieses Blog – kann denken und kommentieren, was er möchte“, schreibt Sánchez. Sie habe schon vor einiger Zeit gelernt, daß „es die beste Art ist, um ‘Sicherheitsleute’ zu foppen, wenn man öffentlich macht, was man denkt. Dadurch, daß wir mit unserem Namen unterschreiben, laut unsere Meinung äußern und nichts verstecken, entschärfen wir ihre dunklen Überwachungsmanöver.“

Und da diese kubanischen Stasi-Leute keine DDR-Deutschen sind, „passen sie auch manchmal bei ihrer Arbeit nicht auf, weil sie auf die wiegende Hüfte eines Mädchens gucken, das gerade vorbeigeht, sie verlieren Papiere oder sie schlafen ein, während sie durch unsere Fenster spionieren“. Es sind Sätze wie diese, die den Alltag am besten beschreiben samt seinem irren Katz-und-Maus-Spiel zwischen Regierung und Volk in einem totalitären Regime, wo eine Intellektuelle wie Yoani Sánchez ihre Stimme, wie sie selbst formuliert, nur „im Cyberspace ohne Einschränkung bewegen kann, ein- und ausreisen, ohne dafür um Erlaubnis zu bitten“.

Inzwischen ist die Bloggerin mit dem renommierten Journalistenpreis „Ortega y Gasset“ der spanischen Tageszeitung El País ausgezeichnet worden, sie gewann den Weblog-Award der Deutschen Welle, den US-amerikanischen Maria-Moors-Cabot-Oreis und wurde vom Time Magazine unter die einflußreichsten Menschen des Jahres 2008 gewählt.

Nur im eigenen Land sind ihre Texte nicht lesbar, nicht mal für sie selbst: „Ich bin eine Blind-Bloggerin, eine Internetsurferin mit einem leck geschlagenen Boot.“ Denn die Autorin muß ihre Texte per E-Mail an Freunde schicken, die diese dann ins Internet stellen. Das Portal www.desdecuba.com  ist in Kuba für öffentlich zugängliche Server gesperrt. In die internationalen Schlagzeilen schaffte es Sánchez, als sie in ihrem Blog sieben Fragen zu den Beziehungen zwischen den USA und Kuba an US-Präsident  Barack Obama richtete und dieser tatsächlich Stellung bezog.

Yoani Sánchez: Cuba Libre. Heyne Verlag, München 2010, gebunden, 256 Seiten, 16,95 Euro

Foto: Propaganda und Tristesse in Havanna: Eine Stimmung wie in Ost-Berlin in den Jahren nach 1985

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