© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

Blockierte Demokratie
Die Koalitionskrise ist nichts weniger als die Krise der politischen Klasse
Michael Paulwitz

Wildsau. Gurkentruppe. Rumpelstilzchen. Kein Dreivierteljahr ist die schwarz-gelbe Koalition an der Regierung, und schon streiten sich CDU, CSU und FDP wie ein zerrüttetes Ehepaar. Die wüsten Beschimpfungen sind dabei nur das äußere Symptom des Verfalls einer Koalition, die offenbar von Anfang an keine Gemeinsamkeiten hatte.

Das System Merkel hat sich totgelaufen. Es ist ein Schönwettersystem: Das präsidiale Verweilen im Ungefähren, das vage Hinhalten und Gegeneinander-Ausspielen, der Verzicht auf inhaltliche Führung und das Rundschleifen aller programmatischen Ecken, um sich jede Option offenzuhalten, hilft eine ganze Weile beim Durchwursteln. Wenn jedoch Aufgaben zu bewältigen sind, die kein aufschiebendes Sowohl-Als-Auch mehr dulden – wie weiter mit EU und Euro, wie die öffentlichen Finanzen sanieren, wie die Sozialsysteme vor dem Absturz bewahren –, dann führt das Abwürgen jeder ehrlichen Debatte und das Hinauszögern jeder konkreten Entscheidung unweigerlich in den kalten Krieg aller gegen alle.

Die Massenflucht des politischen Spitzenpersonals aus der Verantwortung ist ein Gradmesser für die Tiefe der Orientierungslosigkeit. Erst hat Roland Koch hingeworfen, dann Horst Köhler, der wie ein Staatsnotar genötigt wurde, quasi über Nacht die Zerstörung der Euro-Geschäftsgrundlage und die Errichtung einer Transferunion durchzuwinken: Panikreaktion eines permanent Überforderten, der nicht einmal im Moment des Rücktritts den Mut hatte, die Wahrheit zu sagen, und für die Nachwelt lieber als Mimose dasteht, die keine Kritik verträgt.

Christian Wulff hätte da wohl ein dickeres Fell, er gehört ja zum Politikbetrieb, was ihn offenbar vor allem für das höchste Staatsamt qualifiziert. Er ist das mühselige Regieren wohl auch langsam leid und nimmt lieber jetzt den Karriereausklangsposten in Schloß Bellevue, als weiter im ungewissen auf den Stuhl seiner Chefin zu spekulieren. Daß er nicht nur als angezählter Rückkehrer in die niedersächsische Staatskanzlei, sondern auch als vom Volk ungewünschter Präsident der Verlierer wäre, scheint ihn wenig zu bedrücken.

Manche glauben, die Wahl des Bundespräsidenten am 30. Juni könnte zum Jüngsten Gericht werden, an dem die schwarz-gelbe Koalition sich endgültig selbst zerlegt. Das wird nicht eintreten. Denn so wie SPD und Grüne Joachim Gauck nicht nominiert haben, weil er objektiv der bessere Mann ist, sondern um die Regierungsparteien zu ärgern, sowenig werden diese ihr Bündnis platzen lassen, selbst wenn etliche ihrer Wahlmänner – vor allem aus den Reihen der düpierten FDP droht man damit – als Ventil für ihren Frust doch den besseren Mann wählen sollten.

Es gibt zuviel zu verlieren. Zerbricht Schwarz-Gelb, sind bei beiden Partnern die Dienstwagen erst mal weg. Die Vorsitzenden auswechseln? Angela Merkel, die wie eine Bleiplatte von Kohlschen Dimensionen auf ihrer Partei liegt, hat jede personelle Alternative erstickt. Und bei Neuwahlen würde vor allem die FDP gerupft. So mancher wieder herausgeflogene Neu-Abgeordnete hätte gar nach weniger als einem Jahr im Parlament nicht mal einen Pensionsanspruch. Vom Bürger am Stammtisch bis zum Politikredakteur bei der crème de la presse – niemand traut seinen Politikern noch zu, nicht aus Eigennutz, sondern getreu dem Amtseid zum Besten des Landes zu handeln.

Das unterscheidet diese Regierungskrise von der Agonie der sozial-liberalen Koalition, mit der sie des öfteren verglichen wird: Es ist eine Legitimationskrise der politischen Klasse und ihres selbstreferentiellen, auf Machtgewinn, Machterhalt und Privilegiensicherung als Selbstzweck gerichteten Politikbetriebs. Wer in ziel- und prinzipienloser Machtausübung Befriedigung findet, der verbiegt sich, bricht notfalls jedes Versprechen und beugt alle Regeln, um dabeizubleiben; wem es zu anstrengend wird, der flüchtet aus der Verantwortung in ein weiches Auffangkissen.

Neuwahlen mit denselben Parteien und Gesichtern sind deshalb auch keine Lösung. Denn die Opposition, die sie fordert, ist keine. Sie streitet mit der Koalition wegen kosmetischer Kürzungen an den Sozialetats, aber sie fällt der Kanzlerin nicht in den Arm, wenn sie Außen- und Europapolitik zum Schaden Deutschlands betreibt. Ihr Ansehen in der Öffentlichkeit ist genauso miserabel. Das weiß sie natürlich, und deshalb meint sie das mit den Neuwahlen ja auch gar nicht ernst.

Wäre Deutschland eine ganz normale Demokratie wie die Tschechische Republik oder die Niederlande, dann würden sich jetzt neue Parteien und politische Kräfte formieren und populäre Wortführer hervorbringen oder an sich binden, die dem verbreiteten Unmut eine Stimme und den Bürgern die Möglichkeit geben, etablierte Versager abzuwählen und neuen Leuten mit neuen Ideen die Chance zur Bewährung zu geben. Daß der hochgerüstete, mit Denkverboten und Verfahrenshürden nach außen, mit Kartellen und Kastenprivilegien nach innen gegen unliebsame Konkurrenz bestens abgeschottete deutsche Parteienstaat diese demokratische Selbstreinigungskraft nicht besitzt, ist der eigentliche Grund der aktuellen Staatskrise. Bis diese Blockade aufbricht, wird sie noch weit größere Verwerfungen verursachen als Koalitionskräche, Rücktritte und mißglückte Präsidentenwahlen.

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