© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

„Durch das Volk, für das Volk“
Aufruf an die Deutschen: Frederick Forsyth über den Weg in ein demokratisches Europa
Frederick Forsyth

Wenn ich ein deutscher Kultusminister wäre, würde ich dafür sorgen, daß an der Wand jeder Schul-Aula im ganzen Land ein Satz geschrieben stünde. Es handelt sich um die letzten Worte einer Rede, die am 19. November 1863 auf dem Friedhof der kleinen Stadt Gettysburg im US-Bundesstaat Pennsylvania gehalten wurde. Der Redner, mit entblößtem Haupt im scharfen Wind stehend, war groß, doch spindeldürr, und aus seinem ausgezehrten Gesicht sprach Mitgefühl. Und was er sagte, war folgendes: „Es ist also an uns (…) zu geloben, daß der Tod dieser Gefallenen nicht vergeblich sein darf, daß diese Nation mit Gottes Hilfe von neuem die Freiheit aus sich hervorbringt und die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk nicht von der Erde verschwindet.“ Das war Abraham Lincolns Definition von Demokratie, und ich glaube nicht, daß jemals jemand eine bessere formuliert hat.

Aber ich glaube auch, daß die Demokratie langsam aus Europa verschwindet. Was ist überhaupt Demokratie? Zunächst ist sie ein Regierungssystem unter vielen anderen. Ihre Rivalen sind die Autokratie (die Herrschaft eines Despoten), die Theokratie (die Herrschaft einer Prieserschaft, wie im Islam), die Plutokratie (die Herrschaft der Mega-Reichen) und das immer mächtiger werdende EU-System, also die Oligarchie. All diese Begriffe sind aus dem Griechischen abgeleitet, wo „Oligos“ eine kleine Gruppe bezeichnet. Das Sagen hat also eine politische Klasse, die sich selbst ernannt hat, Privilegien genießt, sich Vorteile verschafft und dafür sorgt, daß sie auch in Zukunft an der Macht bleibt. Mit einem Wort: die Elite, die derzeit die Europäische Union beherrscht – üppig ausgestattet mit Arroganz, Intransparenz und Bestechlichkeit, jenen Eigenschaften, die seit jeher mit mangelnder Rechenschaftspflicht gegenüber dem Volk einhergehen.

Winston Churchill, der sich gerne eines ironischen Tonfalls zu bedienen pflegte, nannte die Demokratie einst „die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen“. Vielleicht meinte er, es sei das System, das am anfälligsten und am fragilsten, am schwersten zu handhaben und am einfachsten zu mißbrauchen ist.

Ich glaube, daß die Demokratie auf drei Prinzipien beruht. Sind diese nicht gegeben, dann kann man so viele Wahlen abhalten, wie man will, man hat es dann nur mit einem Schauspiel, einer Maskerade, einer Scharade zu tun. Und genauso ist es um die EU-Regierung in Brüssel bestellt: Sie ist eine Scheindemokratie, wo stets alles manipuliert wird, so daß jeder Wahlausgang im voraus feststeht. Wo aber, frage ich, ist denn da der Unterschied zur Volkskammer der DDR, aus der ich vor 45 Jahren als Reuters-Korrespondent berichtet habe?

Prinzip eins: der Wahlkreis. In einem überschaubaren Wahlkreis leben Menschen aller Art, jeder sozialen Herkunft und aller möglichen politischen Überzeugungen. Aber weil sie ja nicht alle nach London bzw. Berlin fahren können, brauchen sie einen guten und ehrliche Repräsentanten, den sie frei wählen und der aus ihrer Mitte kommt. Dieses Ideal hat aber einen tödlichen Feind im d‘Hondtschen Sitzzuteilungsverfahren, das Brüssel schon vor langer Zeit übernommen hat und das inzwischen in der ganzen EU vorherrschend ist. Nach d‘Hondt werden die Kandidaten von den Parteien bestimmt und den Wählern von oben vorgesetzt.

Demokratie aber muß sich von unten entwickeln, von den Leuten auf der Straße aus, um ihre Repräsentanten darin zu bestärken, im Parlament im Interesse der Bürger abzustimmen – ohne Furcht oder Voreingenommenheit. Doch bei unseren EU-Wahlen stehen nur Kandidaten auf geschlossenen Listen zur Wahl, die nach ihrem sklavischen Gehorsam gegenüber der Parteilinie ausgewählt werden. Egal, wer von ihnen gewählt wird und nach Brüssel geht, sie sagen dort alle das gleiche. Und wieder läßt die alte DDR-Volkskammer schön grüßen.

Prinzip zwei: das unbedingte Recht zu fragen, nachzuhaken, nicht einverstanden zu sein und die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen – alles unverzichtbar und dennoch im Verschwinden begriffen. Dabei ist die Möglichkeit, die Regierenden zur Verantwortung zu ziehen, lebensnotwendig für eine Demokratie. Denn kein Machthaber läßt sich gerne kritisieren. Lord Acton meinte einst: „Macht korrumpiert, und totale Macht korrumpiert total.“ In Großbritannien wissen wir das seit Jahrhunderten. Deswegen stellen wir jedem Politiker – gleichgültig, wie ehrenhaft er oder sie zunächst sein mag – eine Instution an die Seite, der gegenüber er sich zu verantworten hat. Wir nennen das „Ihrer Majestät loyale Opposition“. Man beachte das Wörtchen „loyal“.

Aufgabe dieser Opposition ist es, ständig Rechenschaft zu verlangen, zu prüfen und zu befragen, Erklärungen zu verlangen, Mißstände und Inkompetenz bekanntzumachen. Wir wissen, sind Politiker sich – gemäß der deutschen Konsenstheorie – einig, folgt die Stigmatisierung jeder Kritik und die politische Vetternwirtschaft wie die Nacht dem Tag. Die EU ist seit langem von Grund auf korrupt, weswegen der Europäische Rechnungshof sich seit nunmehr fünfzehn Jahren weigert, ihren Institutionen positive Zuverlässigkeitserklärungen auszustellen.

Zudem muß eine freie Presse die Opposition ergänzen. Sie darf sich also nicht mit dem Establishment ins Bett legen oder gar zu dessen Sprachrohr machen, wie das seit langer Zeit schon in Deutschland der Fall ist. (Ich meine aber ein neues Selbstbewußtsein unter jüngeren deutschen Journalisten zu verspüren – falls ich mich nicht irre: Hurra!)

Warum ist Widerspruch so wichtig und so demokratisch? Warum dient umgekehrt seine Unterdrückung als Steigbügelhalter der Tyrannei? Die Antwort ist, weil Fortschritte in der Geschichte immer nur erzielt wurden, weil irgendwer aufstand und den Mut hatte zu sagen: „Einspruch, ich stimme dem nicht zu!“ Vor mehr als 200 Jahren stand William Wilberforce im britischen Unterhaus auf und sagte: „Sklaverei ist Unrecht!“ Er stand mit seiner Meinung einsam auf weiter Flur, und doch wurde er nicht ausgebuht. Er begann für seine Überzeugung zu werben, andere umzustimmen. 1808 schließlich verbot Großbritannien die Sklaverei im Mutterland, später im ganzen Empire. Das war rund fünfzig Jahre vor dem US-Bürgerkrieg und der eingangs zitierten Gettysburg-Rede! Doch wer darf heute in Deutschland sagen: „Brüssel ist falsch“, alles läuft da in die falsche Richtung, die Völker Europas lehnen das zunehmend ab, und kann seine Karriere noch unbeschadet fortsetzen?

Prinzip drei: das Recht der Bürger, ihre Regierung zu entlassen, sie auf Nimmerwiedersehen aus dem Amt zu wählen. Doch tatsächlich müssen zumindest die Europäer östlich von Calais immer wieder in die gleichen alten Gesichter blicken, dieselben Maschinen-Politiker, die Herren des Apparats kehren immer wieder: abgewählt vom Volk und doch zurückgeholt über eine Parteiliste oder irgendeine Schieberei des Apparats.

Nun steckt Europa in der Krise, und man sagte uns, es liege zunächst an der Bankenkrise und nun an den beinahe kriminellen ökonomischen Machenschaften eines halben Dutzend der „Club Med“-Mitglieder der EU. Macht nichts, wurde uns weiter gesagt, die Deutschen und die Briten, seit Jahren die Zahlmeister dieses Karussells, werden einfach härter arbeiten, mehr schwitzen, mehr zahlen, später in Ruhestand gehen und ärmer sterben. Aber sie werden pflichtschuldig retten ... ja, was eigentlich?

Die Wahrheit ist, daß von uns allen erwartet wird, wie die Ackergäule zu schuften, um die Karrieren einer privilegierten Elite zu retten, die uns den ganzen Schlamassel überhaupt erst eingebrockt hat. Wir sollen zu Bettlern werden, damit die Brüsseler Kleptokratie in Saus und Braus so weiterleben kann wie zuvor.

Hier bei uns haben die Briten David Cameron klargemacht, daß wir dank der EU-Fanatiker Tony Blair und Gordon Brown ausreichend eigene Schulden haben. Wenn er also nach Sarkozys Pfeife tanzen wollte, würde er sich ziemlichen Ärger einhandeln. Denn unter den Briten sagt inzwischen eine Mehrheit: Genug ist genug!

Und die Deutschen? Ihr gehorsamen, fügsamen, „Jawohl!“-murmelnden Deutschen? Habt Ihr immer noch nicht genug? Laßt mich Euch einen Vorschlag machen: Eure Verfassung verbietet Euch, Euch per Referendum zu befragen – aus seit langem irrelevant gewordenen historischen Gründen. Ich glaube, das sollte sich ändern, zugunsten eines Systems, das dem der Schweiz ähnlicher und demokratischer ist. Ich glaube, Ihr Deutschen verdient es, über Eure Währung, Wirtschaft und Eure Zukunft selbst abstimmen zu dürfen!

Würde das das Ende Europas bedeuten? Natürlich nicht, was für ein Quatsch! Europa ist ein alter und stolzer Kontinent. Die EU ist seit nunmehr zwanzig Jahren nur noch ein Projekt, das einer kleinen herrschenden Klasse dient, die sich längst über die Prinzipien der Demokratie hinweggesetzt hat.

Ich glaube, die Europäer könnten ein anderes Europa haben, ein Europa der Nationen, de Gaulles „Europa der Vaterländer“: souveräne Staaten, die durch Grenzen voneinander getrennt sind, aber hundertfach zusammenarbeiten bei gemeinsamen Anliegen. Sie müssen endlich einräumen, daß das, was in Brüssel als „Le Projet“ bezeichnet und hinter verschlossenen Türen als „Vereinigte Staaten von Europa“ konstruiert wird, tot ist. Berlin wird dann vielleicht endlich eingestehen, daß eine Regierung „der Deutschen durch die Deutschen, für die Deutschen“ nicht von der Erde verschwinden wird. Wenn das der Wunsch des Volkes ist, dann ist das Demokratie. Keiner hat je gesagt, daß das einfach wäre. Aber wollt Ihr es so, oder wollt Ihr es nicht?

Frederick Forsyth (71): Der weltbekannte britische Thriller- und Bestseller-Autor („Der Schakal“, „Die Akte Odessa“) gilt als Schöpfer des „Faction“-Genres und Großbritanniens renommiertester EU-Kritiker.

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