© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

Die Oberschicht solidarisiert sich
Wider die Sachzwänge: Kapitalismus und Vertrauen
Harald Harzheim

Daß der US-Soziologe Richard Sennett mit dem Dramatiker und Regisseur Falk Richter in der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz über „Kapitalismus und Vertrauen – eine Wechselbeziehung“ diskutierte, schien vorab vielversprechend. Schließlich hat Sennett in seinen Büchern die Auswirkung des Turbo-Kapitalismus auf konservative Werte wie Identität („Der flexible Mensch“, 1998) oder Respekt („Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“, 2004) aufgezeigt und in „Handwerk“ (2008) einen Ausweg aus entfremdeter Arbeitswelt gesucht.

Dabei stützt sich der 67jährige New Yorker Universitätsprofessor Sennett nicht nur auf Statistik und Vorarbeit anderer, sondern ist selbst als Feldforscher aktiv, beschaut die Dinge vor Ort. Auch Falk Richter (40), der sein in CoProduktion mit der Choreographin Anouk van Dijk entstandenes Stück „Trust“ (Vertrauen) vergangenes Jahr an der Schaubühne zur Premiere brachte, ist mit der Materie vertraut.

Das Problem: Beide waren sich restlos einig, stritten nicht, vertieften nicht, ergänzten sich nur gegenseitig – und das in einer Veranstaltungsreihe, die den Titel „Streitraum” trägt. Immerhin konnte Sennett wieder mit Feldforschung glänzen, wenn er von Ex-Wall-Street-Bankern erzählte, deren Chefs noch zu Krisenbeginn felsenfest an die Kompetenz ihrer Leute glaubten – nein, glauben wollten. Sie hatten auch keine Wahl, denn im Neoliberalismus sei das tiefere, „informelle Vertrauen“, das auf wirklicher Kenntnis (der Mitarbeiter) fußt, am Schwinden. Letzteres basiert nämlich auf gegenseitiger Kenntnis, auf gemeinsam verbrachter (Arbeits-)Zeit – dem Gegenteil der flexiblen, kurzfristigen Personalpolitik heutiger Unternehmen.

Falk Richter erzählte von den Proben zu seinem „Trust“-Stück, das Abstiegsangst und Verunsicherung thematisiert. In den Tanzszenen mußten sich die Akteure – allesamt Nichttänzer – einander (an-)vertrauen. Was bei beidseitiger Unsicherheit hochschwierig ist, aber dennoch gelingen kann. Wie aber Vertrauen in sich und andere errichten, wenn die moderne Wirtschaft, so Richter, den Einzelnen isoliert, Individualismus geschürt und den Glauben an das „Wir“ diskreditiert habe? Jetzt, nach der großen Entsolidarisierung solidarisiere sich – ironischerweise – die Oberschicht gegen die untere. Als Gegengift empfahl er Skepsis gegenüber passivitätsfördernder Rhetorik, die mit Schlagworten wie „Sachzwänge“ Verschleierung betreibe.

Auch Sennett unterstützte eine Rehabilitierung des „Wir“, warnte aber vor falschen, ausschließenden Gemeinschaftskonstruktionen, und trat stattdessen für globale Solidarität à la Jeremy Rifkin ein. Konkreter wurde es vergangenen Sonntagmittag nicht mehr. So geriet die Veranstaltung zur diskursiven Selbstermunterung, zur Seelenmassage für ein Gutmenschen-Publikum.

Dabei lagen konkrete Konflikte in der Luft: So erzählte Richter, daß der Textildiscounter kik nicht bereit sei, seine Preise um einen Cent zu erhöhen, um akzeptable Löhne an die Produzenten zu zahlen. Sollte man kik jetzt also boykottieren? Soll dessen Kundschaft, vornehmlich mutmaßlich Hartz-IV-Empfänger am Rande des Existenzminimums, sich jetzt in einer Boutique einkleiden, um gerechten Lohn zu garantieren? Dann zerrissen sich die Mittellosen untereinander.

Nein, wer noch Brauchbares zur Linderung ökonomischer und sozialer Krisen beitragen will, muß endlich konkret werden. Nur greifbare Hilfstrategien können den Betroffenen nötiges Vertrauen und – vor allem – Selbstvertrauen zurückgeben. Aber um solche hervorzulocken, fehlte der „Streitraum“-Runde der unverzichtbare advocatus diaboli.

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