© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/10 18. Juni 2010

Einwurf: Notizen zur Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika, Folge sechs
Psychologischer Vorteil
Arthur Hiller

Der Nimbus der DFB-Auswahl, eine Turniermannschaft zu sein, ist mehr als bloß Zweckoptimismus, sondern statistisch erhärtet. Ihr Teamgeist  ist den deutschen Kickern aber nicht einfach als ein Geschenk der Natur in die Wiege gelegt worden. Es bedurfte vielmehr der Erfolgserlebnisse, um ihn heranwachsen zu lassen.

Derartige Erfolgserlebnisse kann nur das jeweilige Turnier selbst bieten. Ein Team mag sich mit Bravour für dieses qualifiziert und passable Vorbereitungsspiele absolviert haben: Wo es wirklich steht, offenbart sich erst im Wettkampf. Im Trainingslager kann das Selbstvertrauen von formschwachen Spielern aufgebaut werden und eine rudimentäre Harmonie im Gefüge einer Mannschaft heranreifen, die ansonsten im Profialltag nicht zusammenspielt. All diese Erfolge sind jedoch in Frage gestellt, wenn sich bereits die erste Klippe im Turnier als unüberwindlich herausstellt.

Ob dies der Fall ist, wird nicht zuletzt durch den Spielplan programmiert. Das Glück war hier in den vergangenen WM-Turnieren stets auf der Seite des deutschen Teams. Es blieb nicht allein davon verschont, daß ihm in seine Vorrundengruppen Angstgegner oder Mitfavoriten zugelost wurden. Überdies durfte es sein Auftaktspiel seit 1994 stets gegen jene Mannschaft bestreiten, die sich am Ende jeweils als Schlußlicht der Tabelle wiederfand.

Diesen psychologischen Vorteil hat die DFB-Auswahl insbesondere bei den beiden letzten Turnieren zu nutzen gewußt. 2002 reiste Rudi Völler mit einem Kader nach Ostasien, der aus den Trümmern des bei der EM zwei Jahre zuvor gescheiterten Teams zusammengezimmert war und daher nicht viel Vertrauen erweckte. Mit Saudi-Arabien traf man jedoch als erstes auf den schwächsten WM-Teilnehmer seit Menschengedenken und konnte durch einen 8:0-Kantersieg soviel Selbstvertrauen tanken, daß erst im Endspiel die Stunde der Wahrheit schlug. Das „Sommermärchen“ 2006 begann mit einem 4:2-Erfolg gegen den Fußballzwerg Costa Rica, der später auch gegen die anderen Gruppengegner unterlag. Mit diesem Sieg zerstreute die deutsche Nationalmannschaft die nach einem 1:4-Debakel in der Vorbereitung gegen Italien aufgekeimten Befürchtungen, sie sei unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Die Erleichterung war so groß, daß man darüber verdrängte, wie gefährdet dieser Auftaktsieg über weite Strecken der Partie war.

Auch bei der WM 2010 war das Glück den Deutschen hold, und sie konnten zum Einstieg in das Turnier einen klaren Erfolg gegen jenes Team feiern, das in ihrer Gruppe der schwächste Gegner sein dürfte. Und doch ist diesmal alles anders. Das Vertrauen, es womöglich mit einem Kader zu tun zu haben, der stärker ist als alle seine Vorgänger der vergangenen zwei Jahrzehnte, war so groß, daß der Hinweis auf die Unerfahrenheit zahlreicher Spieler bemüht werden mußte, um die Erwartungen zu zügeln. Nun ist auch diese Bremse gelockert.

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