© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

„Nicht an bestimmte Religionen gebunden“
Integration: Mit einer Broschüre will die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer an den Schulen über das Phänomen der Zwangsheirat aufklären
Lion Edler

Die Internetseite www.ehrenmord.de dokumentiert für das vergangene Jahr die traurige Bilanz von 31 sogenannten „Ehrenmorden“. Nicht selten hatten sich die Opfer zuvor dagegen gewehrt, von ihrer Familie gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Insgesamt 86 erfolgte und 292 drohende Zwangsheiraten allein in Berlin sind nach den aktuellsten Zahlen im Jahr 2007 von den Behörden registriert worden. 

Es gebe jedoch „keine wissenschaftlich gesicherte Datenerhebung zum Ausmaß von Zwangsverheiratung in Berlin“, teilte die zuständige Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT mit. Alle Abfragen seien anonymisiert erfolgt, weshalb Doppelzählungen nicht auszuschließen seien.

Abgesehen von zwölf Fällen handele es sich bei den Opfern fast immer um Mädchen oder Frauen, informierte die Behörde. „Von der Nationalität her stellen Türkinnen die größte Gruppe dar, gefolgt von den arabischen Ländern“, sagte Pressesprecher Stephan Schulz. Auch deutschlandweit gibt es noch keine gesicherten Zahlen, über die Dunkelziffer lassen sich nur Vermutungen anstellen. „Die Bundesregierung ist bestrebt, die Datenlage zu Zwangsverheiratungen zu verbessern, um diese bekämpfen und Betroffene praktisch unterstützen zu können“, kündigte die Bundesregierung daher schon 2008 im Zuge des „Nationalen Integrationsplans“ an. 

„Patriarchalische Familienstrukturen“

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), hat nun erst einmal einen „Leitfaden für Schulen zum Umgang mit Zwangverheiratungen“ vorgelegt, der von einer „offenen Bund-Länder-Arbeitsgruppe“ verfaßt und von der Kultusministerkonferenz abgesegnet wurde. Bereits im Vorwort mahnt Böhmer an, die „unterschiedlichen Blickwinkel und Bedürfnisse des Elternhauses“ näher in den Fokus zu nehmen. Für eine erfolgreiche Bekämpfung des Problems seien zudem „eine kultursensible Herangehensweise und entsprechende interkulturelle Fähigkeiten“ unverzichtbar.

Einer Lösung der Probleme stehen nach Meinung der Verfasser offensichtlich vor allem Vorurteile und Zerrbilder im Weg: „In Deutschland wird Zwangsverheiratung teilweise als Problem der hier lebenden Menschen mit türkischem Migrationshintergrund wahrgenommen“, wird in dem 39seitigen Papier beklagt. Zwangsheiraten seien jedoch „kein Problem einer bestimmten Bevölkerungsgruppe“ und zudem „nicht an bestimmte Religionen gebunden“. Die Verfasser betonen daher, daß von dem „ganz überwiegenden Teil der hier lebenden Migrantinnen und Migranten keine Zwangsverheiratungen praktiziert werden“. Ohne es weiter zu begründen, stellen die Autoren fest, Zwangsheirat habe ihre Ursache vielmehr „in patriarchalischen Familienstrukturen“ und finde häufig „in Familien mit einem traditionell-patriarchalischen Rollen- und Familienverständnis statt“.

Um so erstaunlicher erscheinen die beiden Fallbeispiele, die in dem Leitfaden geliefert werden. Dort ist nämlich von der fiktiven 16 Jahre alten Anjeela die Rede, deren Eltern einen „Migrationshintergrund“ haben, sowie von Mehmet, der mit 18 in der Türkei zwangsverheiratet wird.

FDP arbeitet an einem Gesetzentwurf

Kurz nach dem Kapitel mit den Fallbeispielen wird dann bereits wieder gemahnt, bei der Behandlung des Themas in der Schule darauf zu achten, „daß keine Fokussierung auf Jugendliche mit Migrationshintergrund stattfindet“.

Dieses sei dadurch zu verhindern, daß die Zwangsverheiratung im Kontext „häusliche Gewalt bzw. familiäre Gewalt bearbeitet wird“. Hilfreich seien mit „interkultureller Jugendpädagogik“ vertraute Fachkräfte, entscheidend sei zudem das frühe Einholen der Unterstützung von spezialisierten Beratungsstellen: „Keinesfalls sollten Pädagoginnen bzw. Pädagogen versuchen, allein der Betroffenen zu helfen, da die Gefahr besteht, sich emotional zu stark zu verstricken und bei eigener Überforderung das Unterstützungsangebot zurückzuziehen.“

Unterdessen arbeitet die Bundestagsfraktion der FDP an einem Gesetzesentwurf, der Zwangsverheiratung als eigenen Straftatbestand im Strafgesetzbuch verankern soll. Bisher kann Zwangsverheiratung nur als schwere Nötigung mit bis zu fünf Jahren Haftstrafe geahndet werden. Der Vorsitzende des Arbeitskreises Innen und Recht von der FDP-Fraktion, Hartfried Wolf, hält dies „nicht für ausreichend, da es auch international als Straftat nicht verfolgt werden kann“. Einwandererfamilien sei oft nicht bewußt, daß Eltern, die ihren Kindern vorschreiben, wen sie zu heiraten haben, gegen die deutsche Rechtsordnung verstoßen.

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