© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

„Ohne KZs wären wir alle arbeitslos“
Vergangenheitsbewirtschaftung: Iris Hanikas neuer Roman führt die deutschen Neurosen ad absurdum
Thorsten Hinz

Graziela und Hans sind enge Freunde, aber kein Paar. Sie können keines sein, denn es fehlt ihrer Beziehung die Polarität, die gegenseitige Anziehung, das Begehren. An Liebe ist erst recht nicht zu denken, an die Einheit von Leib und Seele und die Transzendenzerfahrung, die aus tiefer Zweisamkeit erwächst. Dabei ist Graziela so wenig lesbisch, wie Hans schwul ist. Ihr Denken und Fühlen wird bloß von einer „konkreten Not“ überlagert und zersetzt: von dem Zwang, alles, was ihnen im Guten wie im Bösen widerfährt, mit Auschwitz in Beziehung setzen zu müssen.

Na also, geht doch! freut sich der Leser

In der überfüllten U-Bahn tröstet sich Hans damit, daß die Deportationszüge in die Vernichtungslager noch viel voller waren. Wenn er zu Bett geht, denkt er daran, daß den Häftlingen in Auschwitz nur Pritschen zur Verfügung standen. Und Graziela fühlt sich schuldig, weil ihr Großvater zwar keiner SS-Einsatzgruppe angehörte, aber als Soldat an der Ostfront gewissermaßen die Voraussetzung für die Judenmassaker geschaffen hatte. Aus Filmen und Büchern wissen sie von der „Überlebensschuld“, welche die befreiten Lagerinsassen gegenüber den Toten empfinden, und sie beziehen sie auf sich selbst. Ihre Schuldgefühle entladen sich in einem „heillosen Haß auf DEUTSCHLAND“.

Auf solche Gedanken kommt man natürlich nicht von allein, sie müssen vorgedacht, verbreitet und indoktriniert werden. In Iris Hanikas Roman „Das Eigentliche“ wird diese Arbeit vom „Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung“ geleistet, das in einem 16 Stockwerke hohen und 120 Meter breiten Gebäude „in der Mitte der Hauptstadt des Landes“ residiert. Hier schlägt, „und das war eben offiziell, das Herz des Landes“. Der Bau erinnert an Görings Luftfahrtministerium – ab 1990 Sitz der Treuhandanstalt –, wie es Günter Grass im Wiedervereinigungsroman „Ein weites Feld“ beschrieben hat, aber auch an die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße oder an Orwells Wahrheitsministerium.

Gleichzeitig handelt es sich um ein Holocaust-Mahnmal der besonderen Art. Sein Mittelpunkt ist ein Zentralarchiv, das mit in- und ausländischen Archiven und Filialen im ganzen Land vernetzt ist. Alle Informationen über Verbrechen im Dritten Reich laufen hier zusammen, werden geordnet, bewertet, verdichtet und in das Kapillarsystem der Gesellschaft eingespeist, so daß das Bewußtsein unvergleichlicher deutscher Verbrechen sämtliche Institutionen des Landes durchdringt. „So war die Dunkelheit, aus der dieser Staat vor langer Zeit hervorgekrochen war, in das hellste Licht gestellt und zu seinem Eigentlichen erklärt worden, was nur logisch war, schließlich war es der Grund seiner Gründung.“

Kann man auf Dauer so leben: die ganze private und öffentliche Existenz unter die Fuchtel der Holocaust-Transzendenz gestellt? Nein, kann man nicht! Graziela hat Glück, weil ein (verheirateter) Mann in ihr Leben tritt, mit dem sie sexuell gut harmoniert, und das wird ihr neues Eigentliches. Fortan kleidet sie sich elegant, benutzt Parfüm und spricht „eher über Hausfrauenprobleme (...) als über Auschwitz“. Na also, geht doch! freut sich der Leser mit ihr.

Bei Hans Frambach (so sein vollständiger Name) liegen die Dinge komplizierter, denn er hat Auschwitz zu seinem Beruf gemacht und verdient seinen Lebensunterhalt in besagtem Institut. Er bewirtschaftet „das Unglück. Wenn er es von sich abzog, blieb nichts von ihm übrig, nichts. Gar nichts.“ Das historische Unglück zum privaten zu machen und auf Dauer zu stellen, bedeutet die Selbstauslöschung. Dagegen aber protestieren Frambachs tiefste Lebensimpulse.

An äußerer Handlung geschieht wenig in dem Buch, die Absetz- und Befreiungsversuche finden in Frambachs Innern statt. Zunächst nehmen sie den Umweg über den Zynismus, für den der „Shoa-Business“ überreichlich Anlässe bietet. Nach einem Treffen des Internationalen Auschwitzkomitees ist die Mitarbeiterin einer Wiedergutmachungsinstitution richtig begeistert von dieser „Crème de la crème der Überlebenden“. Die auktoriale Erzählstimme sinniert, ob man nicht „alle Länder der Eurovision zum Grand Prix von Auschwitz herbeirufen“ und diesen unter das Motto „Make Gedenken, not KZs!“ stellen sollte. Für eine Dienstreise nach Schanghai fordert Frambach von der Chefsekretärin des Archivs einen Flug in der Business statt in der Economy Class, diesem „Menschentransport in Viehwaggons. Auschwitz. Davon haben Sie gewiß schon einmal gehört.“

Seine Befreiung erlebt der Romanheld in Auschwitz

An seinem Arbeitsplatz fühlt er sich wie „ein KZ-Wächter vor, nur daß heute die KZ-Wächter dafür da sind, die Erinnerung wachzuhalten. Wir bewachen nämlich auch die KZs. Denn ohne KZs wären wir alle arbeitslos.“ Graziela vergleicht seinen Zustand mit dem von Mönchen, „denen die Freude an Gott abhanden gekommen ist“.

Bis die Katharsis erfolgt: Frambach spürt in Brust und Bauch etwas Warmes und Weites – die Auswirkung einer nie gekannten Menge Glückshormone. Seinen Tag der Befreiung erlebt er in Auschwitz, wo er einer Fachtagung beiwohnt. Mutiger als sein noch immer ängstliches Herz sind seine Füße, die sich einfach weigern, den letzten Gang der Holocaust-Opfer abzuschreiten. Sie führen ihn „aus dem Lager hinaus / auf die schmale Landstraße, / die außen am Zaun entlangführte. / Und er war frei.“ Na also, geht doch! freut sich der Leser mit Hans.

Der Roman von Iris Hanika (Jahrgang 1962) ist ein in jeder Hinsicht starkes Stück: über die Pathologien des Shoa-Business, über das pervertierte Selbstverständnis des deutschen Staates und die individuellen Neurosen, die er mit seiner Vergangenheitsbewältigung erzeugt. Indirekt ist das Buch auch eine Attacke auf die Altvorderen der deutschen Nachkriegsliteratur, die fast durchweg als Informelle Mitarbeiter des fiktiven „Instituts für Vergangenheitsbewirtschaftung“ agierten. Der ideelle Kern der von Reich-Ranicki favorisierten Autoren: Andersch, Böll, Grass, Koeppen usw., ist ja ebenfalls die Holocaust-Transzendenz beziehungsweise ein falscher Gottesdienst.

Apropos: Vor einigen Wochen publizierte der Schriftsteller Thomas Melle in der Zeit einen Totalverriß Paul Celans, dessen „Todesfuge“ gewöhnlich als Höhepunkt deutschsprachiger Nachkriegslyrik gepriesen wird. Die Zeile „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ lieferte den antideutschen Fanatikern eine zentrale Parole. Melle nennt Celan „einen in die Opferrolle sich verstrickt habenden Fremdgänger“, „einen Todescharmeur, der mit verschwurbelter Ornamentik Geheimniskrämerei im Leichentuch der Verwandten betreibt“, von dem man sich freimacht, „indem die ganze Todessuppe einfach hurtigst ausgelöffelt wird, und Schluß“! Er zitiert einen Vers von Robert Gernhardt: „Ach, ist das beziehungsreich / ich glaub, ich übergeb mich gleich.“

Wenn es so ist, wird es Zeit zum Großreinemachen.

Iris Hanika: Das Eigentliche. Roman. Literaturverlag Droschl, Graz Wien 2010, gebunden, 176 Seiten, 19 Euro

Am 30. Juni um 20 Uhr liest Iris Hanika im Hamburger Literaturhaus, Schwanenwik 38, aus ihrem Roman.

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