© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

Einwurf: Notizen zur Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika, Folge sieben
Rasenschach der Abwehrbastionen
Arthur Hiller

Bevor die WM 2006 in Deutschland begann, erwarteten nicht wenige Sachverständige ein Festival des offensiven Hochgeschwindigkeitsfußballs, das sich womöglich auch in spektakulären Spielverläufen und einer Torflut niederschlagen würde. Die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. In den insgesamt 64 Partien des Turniers fielen ganze 164 Treffer, vier Jahre zuvor waren es noch zehn mehr gewesen. Die laufende Weltmeisterschaft hat das Potential, einen neuen Minusrekord aufzustellen.

Ein wesentlicher Grund für dieses Phänomen ist sicherlich, daß die vermeintlich krassen Außenseiter auch von den nominell stärksten Teams heute nicht mehr einfach so mit Kantersiegen vom Platz gefegt werden können – von dem 7:0-Ausreißer Portugals gegen Nordkorea am Montag dieser Woche abgesehen. Die Zeiten, in denen die Teilnahme von karibischen, ozeanischen, asiatischen und auch afrikanischen Nationalmannschaften bloß dem Kontinentalproporz geschuldet war und die Exoten nur selten für Überraschungen sorgten, sind vorbei. So kann ein Fußballzwerg wie Neuseeland dem amtierenden Weltmeister Italien ebenso ein Unentschieden abtrotzen wie Algerien den favorisierten Engländern. „Weltfußball“ ist kein Wunschdenken mehr, die Marketingstrategen der Fifa haben in der Ära Blatter mit dem Sendungsbewußtsein von Entwicklungshelfern den Bedarf für ihr Produkt selbst in den entlegensten Winkeln des Erdballs zu wecken verstanden. Allein der südasiatische Raum harrt noch einer Erschließung. Die Kader der Spitzenclubs in den dominierenden europäischen Ligen sind längst globalisiert, auf der Bühne der WM tritt die aus den Uefa-Wettbewerben geläufige Prominenz lediglich in neuer Sortierung gegeneinander an.

Trainer aus arrivierten Fußballnationen, die Emporkömmlinge an die Weltspitze heranführen wollen, haben es daher leichter, mit ihren taktischen Vorstellungen auf Verständnis zu stoßen. Das Resultat ist die Standardisierung, die bei dieser WM in der Spielanlage zu beobachten ist. Es dominiert die 4-2-3-1-Aufstellung, mit der sich auch durchschnittlich besetzte Mannschaften eine gute Chance gegen vermeintliche Favoriten ausrechnen dürfen. José Mourinho hat diese Taktik in der vergangenen Saison zur Perfektion geführt: In den 13 Partien, die zu bestreiten waren, hat Inter Mailand lediglich 17 Treffer erzielen müssen, um die Champions League zu gewinnen. Der italienische Meister hat in ihnen aber auch bloß neun Tore kassiert. Dieses Geduldspiel aus disziplinierten Abwehrbastionen heraus, in dem eine Entscheidung zumeist erst aus Geniestreichen der Angreifer oder groben Fehlern der Verteidiger resultiert, ist kein Stimmungstöter, solange das Herz des Zuschauers für eine der beteiligten Mannschaften schlägt. Ist dies nicht der Fall, kommt jedoch der Unterhaltungswert der dargebotenen taktischen Raffinesse jenem live übertragener Schachturniere gleich.

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