© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

Vereinnahmt und verballhornt
Der Mythos lebt: Besuch im Nibelungen(h)ort in Xanten
Daniel Napiorkowski

Mit dem Nibelungenlied verbindet man vor allem zwei Städte: Xanten, den Geburtsort Siegfrieds, und Worms, an dessen Königshof ein Großteil des ersten Teils der Sage spielt. 2001 öffnete in Worms das erste Nibelungenmuseum; seit Ende März dieses Jahres hat nun auch Xanten mit dem Nibelungen(h)ort ein Museum, das sich ausschließlich der Sage widmet.

Im Gegensatz zu Worms, wo der mythische Charakter der Nibelungensage beleuchtet wird, verzichtet man in Xanten auf jedwede Betonung mythischer und heroischer Elemente und rückt die historischen Ursprünge der Sage in den Vordergrund. Vor allem aber wird ihre kulturelle, gesellschaftliche und politische Umsetzung im Laufe der Jahrhunderte veranschaulicht.

Am gedämpften Licht   erkennt man: Es ist 1914 

Der erste Eindruck überrascht: Man betritt einen abgedunkelten Raum, einige grelle Lichter flackern, akustische Fetzen aus Spielfilmen sind zu vernehmen. An den Wänden sind Spiegel, und inmitten des Raums steht eine Würfellandschaft, in die diverse neuere Interpretationen des Nibelungenliedes eingearbeitet sind: Bücher von Wolfgang Hohlbein, Fantasy-Comics, Sammelbilder, Poster und DVDs. Der Mythos lebt – aber nur in der modernen Popkultur, denn der Teil der Ausstellung, der die Nibelungensage von ihren Ursprüngen bis 1945 thematisiert, ist bewußt nüchtern, sachlich, entmythifizierend.

In einem langen Schacht werden die Protagonisten des Nibelungenliedes vorgestellt und auf ihre historische Authentizität geprüft. Man kann alte Handschriften auf einem digitalen Bildschirm lesen, und es werden die Einflüsse des Nibelungenliedes auf nordische Heldendichtungen (zum Beispiel Beowulf) aufgezeigt.

Der Blick auf die Rezeption nach der Wiederentdeckung der Handschriften des Nibelungenliedes durch Jacob Hermann Obereit 1755 fällt überraschend knapp aus. Dafür wird dem 19. Jahrhundert wieder mehr Beachtung geschenkt; das Nibelungenlied nimmt um diese Zeit allmählich den Rang eines deutschen Nationalepos ein. Theateraufführungen und Romane greifen den Stoff auf, auch Goethe, Arndt, Grillparzer, Heine, Mörike, Wagner und andere Größen der deutschen Geistesgeschichte beschäftigen sich mit der Sage.

Das gedämpfte Licht verrät es schon von weitem: Wir sind im Jahre 1914 angekommen, es ist von Nibelungentreue die Rede, und an der Westfront gilt es, die „Siegfriedstellung“ zu verteidigen. Einige Meter weiter und einige Jahre später heißt es, im Westen die „Siegfried-Linie“ zu halten, während die Alliierten bereits spotten: „We’re Going to Hang out the Washing on the Siegfried Line“, in Linz produziert das Nibelungenwerk Panzer am Fließband, und noch Ende März 1945 wird die SS-Grenadier-Division „Nibelungen“ aufgestellt. Den Abschluß bilden Aufnahmen vom Kriegsende: Die Siegfriedstadt liegt unter Tonnen von Schutt und Asche begraben.

Verläßt man den Raum, kommt man wieder in die Gegenwart, wo die Nibelungensage als greller Zeichentrickfilm über den Bildschirm läuft und Tom Gerhardt als „Siegfried, der Drachentöter“ einen schwachsinnig anstarrt. Am Ende des lohnenden Museumsbesuchs bleibt jedoch die Gewißheit, daß die Spuren, die die Nibelungensage im kollektiven Gedächtnis der deutschen Nation hinterlassen hat, tief genug sind, um weder durch politische Vereinnahmung noch durch mediale Verballhornung  verwischt werden zu können.

Weitere Informationen: Museum Nibelungen Xanten, Kurfürstenstraße 9. Geöffnet täglich von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt kostet 5 Euro (ermäßigt 3 Euro). Internet: www.nibelungen-xanten.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen