© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

Meldungen

Wikipedia und die Ideale der Basisdemokratie

PADERBORN. Mit dem Anspruch, das Wissen der Welt zusammenzutragen, stellt sich die Internet-Enzyklopädie in die Tradition der Aufklärung und will das Erbe Denis Diderots antreten. Dabei scheint sie ihrem französischen Ahnherrn vorauszuhaben, daß sich in der unablässigen Aktualisierung der Artikel ein Prozeß „kollektiven Schreibens“ vollzieht, der im Cyberspace eine unüberschaubare Menschenmenge zum gemeinsamen Denken und Lernen animiert und ihr zu emanzipatorische „Bewußtseinserweiterung“ beschert. Daß solche Utopien vom „dialogischen Wissensuniversum“ mit dem Wikipedia-Alltag eher weniger so tun haben, merkt Isabell Otto an (Sprache und Literatur 104/2009). Sie stützt sich dafür auf neueste Befunde empirischer Sozialforscher, die das Netz-Lexikon unter die Lupe genommen haben. In der englischsprachigen Wikipedia klaffen Anspruch und Wirklichkeit noch am wenigsten auseinander. Anders im deutschen Medium, wo sich eine mit den Emanzipations- und Gleichheitsversprechen kollidierende „Oligarchie“ entwickle. Die Rechte eines Wikipedia-Nutzers wachsen mit der Dauer der Zugehörigkeit und dem Grad seiner Aktivität. Kein Wunder, daß sich im virtuellen sozialen Beziehungsgeflecht Gruppen herausbildeten, die die „Ordnung der Community“ gestalten. Mit „basisdemokratischen Idealen“ habe dies aber nichts mehr zu tun.

 

Anspruchsvolle Skepsis: Verschwörungstheorien

STUTTGART. In einem nervtötenden Deutsch, das sämtliche Vorurteile über das „Soziologen-Chinesisch“ bestätigt, rückt der Leipziger Doktorand Oliver Kuhn den wieder im Aufwind befindlichen „Verschwörungstheorien“ auf den Pelz (Zeitschrift für Soziologie, 2/2010). Kuhn, der seine Dissertation am Graduiertenkolleg „Bruchzonen der Globalisierung“ zum Thema „Laientheorien über weltwirtschaftliche Probleme“ schreibt, findet die Foren des Weltnetzes derzeit prall gefüllt mit Spekulationen über „Spekulanten“ und andere „Drahtzieher“ der Weltfinanzkrise. Unter den zahlreichen „diskursiven Funktionen“, die „Verschwörungstheorien“ zugeschrieben werden – vom Ersatz religiöser Weltdeutung bis zur Reduktion von Komplexität –, scheint in Sachen Griechenland und Euro derzeit die „Haltung des Verdachts gegen Massenmedien, Geldwirtschaft und hohe Politik“ die meisten Anhänger zu finden. Sie erhalte vielen Menschen „Kritikfähigkeit auch bei wenig konkretem Wissen“. Allerdings will sich Kuhn wie bei anderen Verschwörungstheorien nicht dafür verbürgen, daß „sämtliche Behauptungen“ nur „Unsinn“ böten. Komme doch schon der investigative Journalismus nicht ohne den kontrollierten Einsatz von Spekulationen aus. Insoweit sei auch Verschwörungstheoretikern nicht abzusprechen, daß sie „methodisch anspruchsvolle Skepsis“ einforderten – „jedenfalls was das Hinterfragen des Mainstream-Wissens angeht“. 

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