© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Patriotismus
Verkehrte Welt in Neukölln
Dieter Stein

Niemand wird über den Sieg der deutschen Nationalmannschaft im Achtelfinale am vergangenen Sonntag so erleichtert gewesen sein wie die deutsche Kanzlerin. Jeder weitere Sieg der deutschen Elf sichert ihr die gewünschte Ablenkung der Öffentlichkeit vom katastrophalen Bild, das die schwarz-gelbe Bundesregierung besonders in den letzten Wochen geboten hat. Deutschland ist im WM-Fieber. England geschlagen, die Schmach von Wembley nach 44 Jahren gerächt – die Sonne lacht schwarz-rot-gold. Wer interessiert sich da noch für Milliardenversenkungspakete, Bundespräsidentenwahl oder Rot-Grün mit dunkelroter Duldung in Düsseldorf? Überstunden bei BMW, Mercedes, VW und Opel gerettet ohne Staatshilfe ... Wirtschafts- und Finanzkrise: nie gehabt?

Selbst unter patriotisch gesinnten Konservativen gibt es eine relevante Minderheit, die skeptisch ist angesichts des WM-Rummels, der profanen Nationalflaggen an Autos, den schwarzrotgold geschminkten Halbstarken, wie sie hupend durch die Innenstadt rasen oder heiser „Deutschland“ rufen. Alles Schall und Rauch, wenn die WM vorbei ist? Opium der politischen Klasse für das Volk, um parallel hinter den Kulissen die nächsten politischen Schweinereien anzuzetteln?

Ich gebe zu, daß mich das intellektuelle Naserümpfen über die patriotische Begeisterung des Volkes abstößt. Wann haben denn Bürger überhaupt die Gelegenheit, Freude über ihre eigene Nation unbeschwert äußern zu können? Sicher ist auch, daß sich eine solche Begeisterung nicht einfach so inszenieren läßt, schon gar nicht von der Politik, die vollkommen unfähig ist, das eigene Volk für einen Auftrag zu mobilisieren. Emotionale Ansprache der Deutschen ist ein Fremdwort in Berlin. Verdruckst und neurotisch ist vielmehr das Verhältnis der politischen Klasse zur eigenen Identität, die sich in Weltbürger- und Europäertum flüchtet.

Wie politisch der WM-Patriotismus ist, zeigen nicht zuletzt Reaktionen der linken Szene: So feiern autonome Chaoten in Berlin, schon mehrere tausend „schwarzrotgoldene Lumpen“ erbeutet zu haben, und zeigen im Internet Bilder, wie sie auf den abgebrochenen Auto-Nationalflaggen herumtrampeln und in den Müll befördern.

Und jetzt wird es noch verrückter: Linksradikale toben vor Wut, weil sich auch unter Zuwanderern eine besondere Deutschland-Begeisterung breitmacht. „Ausländer, laßt uns nicht mit diesen Deutschen allein“, so hoffte die Linke, die Nation durch Einwanderung auszulöschen. Entsprechend groß ist die Verwunderung darüber, wenn nun ausgerechnet Neubürger mit „Migrationshintergrund“ sich enthusiastisch zu Deutschland bekennen. So haben in Berlin-Neukölln Linksautonome schon mehrmals ein Haus angegriffen, an die arabischstämmigen Brüder Bassal die größte Deutschlandfahne der Hauptstadt (siehe Bericht auf Seite 5) befestigt haben. Bereits zweimal wurde die Fahne geklaut, doch die Brüder wollen sich auch von wüsten Beschimpfungen linksradikaler Deutscher nicht von ihrer Begeisterung für unsere Nation abbringen lassen. Verkehrte nationale Welt in Deutschland!

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