© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Pankraz,
die Lockjuden und der deutsche Pavillon

In Amsterdam hat der Bürgermeister jetzt einen höchst bemerkenswerten Entschluß in Sachen Antisemitismusbekämpfung gefaßt: Künftig sollen die Polizisten der Stadt auf ihren Streifgängen als streng orthodoxe Juden mit Hut und Ringellöckchen verkleidet werden, um antisemitische Beschimpfungen auf sich zu ziehen. Einzig durch den Einsatz solcher „Lockjuden“, sagt der Bürgermeister, könnten antisemitisch infizierte Mitbürger entlarvt und ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.

Eine zweite Nachricht erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Der deutsche Pavillon auf der Kunstbiennale in Venedig soll nach dem Willen hiesiger Tugendwächter unter Führung des Chefs der Bundesarchitektenkammer, Sighart Schmid, „endlich abgerissen“ werden, weil er ein „Nazibauwerk“ sei. Zwar ist er gar nicht in der Ära des Dritten Reiches errichtet, sondern damals, 1938, lediglich ein bißchen verändert worden, aber das genügt nach Meinung von Professor Schmid, um ihn als Hort des Unheils ein für allemal entsorgen zu müssen.

Nun ist besagter Pavillon – um zunächst bei ihm zu bleiben – nicht nur kein Nazibauwerk, sondern nicht einmal ein genuin deutsches. Er wurde 1909 von dem venezianischen Architekten Faniele Donghi errichtet, und zwar im Auftrag des bayerischen Königs bzw. des Prinzregenten. Erst 1912 kam das Reich als ganzes hinzu. Und man sah keinen Anlaß, das Donghi-Haus zu ersetzen, denn es sah, in bescheidener Weise, gut aus, und seine Räume waren außerordentlich fungibel.

Der NS-Architekt Haiger hat 1938 nur ein bißchen „Fassadenpflege“ vorgenommen. Er ersetzte die vier zierlichen ionischen Säulen durch wuchtigere Rechteckpfeiler und setzte ihnen einen giebellosen Architrav auf. Niemand hatte bisher daran Anstoß genommen, fast im Gegenteil. Gerade für die merkwürdigen Exzesse der aktuellen Raum- und Begehungskunst, wie sie auf der Biennale seit langem bevorzugt werden, eignete sich das Gebäude vorzüglich. Es schien wie extra dafür geschaffen.

Letztes Jahr auf der Biennale 2009 verwandelte es der britische „Ereigniskünstler“ Liam Gullick in eine einzige Wohnküche modernster Ausstattung; auf dem Küchenschrank aber saß eine ausgestopfte Katze, die per Tonband  – und auf Englisch – schwachsinnige Döntjes über die Deutschen zum besten gab, wie sie halt in der britischen Upper class üblich sind.

Man darf sich natürlich fragen, was hochrangige deutsche Kunstkuratoren dazu treibt, eine englisch sprechende Katze nebst Wohnküche zum exklusiven Vorzeigegegenstand eines deutschen Biennalebeitrags zu machen. Hier nun stellt sich die Parallele zu den „Lockjuden“ von Amsterdam her. Dort wie im Pavillon von Venedig regiert der pure Schwachsinn, wie er sich auch anderswo im Zuge der „Vergangenheitsbewältigung“ herausgebildet hat. Man überschlägt sich, um ja nur einen Beitrag zur behördlich verordneten „Erinnerungskultur“ zu leisten.

Erinnerung und Vergessen geraten darüber hoffnungslos durcheinander. Man errichtet Wahnwelten (Beispiel Amsterdam), oder man will sie „endgültig“ zum Verschwinden bringen, will sie für immer vergessen machen (Beispiel Pavillon). Man fragt längst nicht mehr, ob eine Sache (noch) da ist oder nicht, man dekretiert einfach und hilft künstlich nach. Und die Absicht, seine Mitmenschen in schnödester Weise zu provozieren, sie auf Teufel komm raus zu Ungeheuern zu machen, ist immer dabei.

Soeben ist ein Büchlein des Münchner Altphilologen Christian Meier erschienen: „Das Gebot zu vergessen“ (Siedler Verlag, Berlin). Der Autor macht darin den vorgeschriebenen Kotau vor der offiziellen Vergangenheitsbewältigungsindustrie mit ihren Ritualen und Verbotstafeln,  weist aber genüßlich darauf hin, daß die „jahrtausendelang“ geübte Methode der Völker, mit ihrer Geschichte fertig zu werden, nicht das Erinnern, sondern das Vergessen war.

Ausführlich hingewiesen wird auf das Instrument der „Damnatio memoriae“ im alten Rom, wo nicht nur die Namen, sondern auch die Taten von historischen Figuren, die dem allgemeinen Wohlergehen im Weg standen, sorgfältig aus allen Inschriften herausgemeißelt wurden. An sich eine höchst fragwürdige Art, sich Dämonen vom Halse zu schaffen, findet Pankraz. Ihm gefällt weder Meiers Kotau vor den Dauerbewältigern  noch dessen stille Begeisterung für die Vergessenskultur. Es gibt nämlich in Wirklichkeit gar keine Alternative „Vergessen oder Erinnerung“.

Beides, Erinnerung wie Vergessen, gehört zwar ununterdrückbar zur menschlichen Natur, aber beides kann regelrecht entarten und zur schlimmen Plage werden. Verordnetes, durch Macht gesteuertes Erinnern führt zur reinsten Geistesdiktatur, zu Denk- und Forschungsverboten, Polizeiregime und Abschaffung der Meinungsfreiheit. Vergessen seinerseits erweist sich von vornherein als Gehirneintrübung; die vielen Alzheimerpatienten und gewisse deutsche Kuratoren liefern deprimierende Beispiele.

Bewußt und wirklich vergessen kann man gar nicht. Man kann sich nur entschließen, das erinnerte Faktum gewissermaßen in Ruhe zu lassen, es um des Friedens und des Gedeihens der Polis willen einzuschreinen. Der freie Geist erinnert, weil er erinnern will, und er vergißt, weil er vergessen will. Und das, was er vergessen will, ist nie gänzlich vergessen, vielmehr in eine andere Gedächtniskammer verwiesen, von wo die Erinnerungen sich schwerer „abrufen“ lassen.

Und was für den einzelnen gilt, gut auch für die Polis. Horst Janssen, der große verstorbene Zeichner und Lebenskünstler, konstatierte einst: „Die größere Leistung des Gehirns liegt im Vergessen und nicht im Erinnern“. Er meinte das „kulturelle Gehirn“ der Völker und der Polis. Auch dieses vergißt und erinnert nicht spontan, sondern durchaus bewußt, entscheidet frei, was um des kollektiven Gedeihens und Überlebens willen (maßvoll) zu erinnern ist. Es muß freilich wirklich souverän sein, um richtig und wegweisend entscheiden zu können.

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