© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Korrekturbedarf
Karl Heinzen

Louis Michel hat sich in das Gedächtnis der Europäer vor allem als rigoroser Streiter für ethische Normen in der Politik eingebrannt. Als sich in Österreich vor knapp zehn Jahren eine Koalition aus der christlich-demokratischen Volkspartei und den als rechtspopulistisch geächteten Freiheitlichen bildete, rief er in seiner damaligen Funktion als belgischer Außenminister seine Landsleute dazu auf, von einem Skiurlaub in der Alpenrepublik abzusehen, da dies als unmoralisch zu betrachten sei.

Mit diesem Vorstoß hat er sich seinerzeit der Kritik ausgesetzt, aus lauter Prinzipientreue realitätsblind zu sein. Nun, da er nach einem Intermezzo als EU-Kommissar die wallonischen Liberalen im Europäischen Parlament vertritt, stellt sich heraus, daß dieser Vorwurf unberechtigt war. Michel ist vielmehr sehr wohl in der Lage, selbst überaus problematische Persönlichkeiten differenziert zu betrachten, und stellt dies ausgerechnet an König Leopold II., der Belgien von 1865 bis 1909 regierte, unter Beweis.

Über diesen Monarchen hat sich in der Geschichtsschreibung das Bild verfestigt, daß er den von ihm begründeten Kongo-Freistaat, den er als sein persönliches Eigentum betrachtete und erst kurz vor seinem Tod dem belgischen Staat schenkte, mit Methoden ausgebeutet hätte, die in der an Greueln nicht armen Kolonialgeschichte der Europäer bespiellos gewesen seien. Mehr als eine Million Kongolesen hätten ihr Leben gelassen, um den Reichtum des Königshauses zu mehren.

In einem Interview mit der Wochenzeitschrift P-Magazin anläßlich des 50. Jahrestages der Unabhängigkeit des Kongo stellt Michel nun klar, daß man es sich zu leicht macht, wenn man diese Politik von damals heute pauschal verurteilt. Sicher habe es wie überall auch hier „Unregelmäßigkeiten“ gegeben, alles in allem sei Leopold II. jedoch „ein Visionär und ein Held“ gewesen.

Sicherlich verfolgt Michel in erster Linie die Absicht, das Bewußtsein der Belgier dafür zu schärfen, welche Verdienste ihre Monarchie als einigendes Band des vom Zerfall bedrohten Staates auf ihre Fahnen schreiben darf. Er berührt damit aber zugleich ein Problem, das die westlichen Nationen insgesamt angeht: Zahlreiche weltpolitische Probleme von heute wie „gescheiterte Staaten“ und Unterentwicklung haben ihre Ursache nicht im Kolonialismus, sondern in dessen vorschneller Beendigung.

Der Westen muß daher kein schlechtes Gewissen haben, wenn er versucht, diesen Fehler mit politischen, militärischen und wirtschaftlichen Mitteln sowie zeitgemäßen Legitimationsformeln zu korrigieren.

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