© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Waghalsiger Zug der Lemminge
Christian Hartmanns Epos über den Rußlandfeldzug der Wehrmacht nach 1941
Bernd Polley

Vier Jahre Krieg zwischen Deutschen und Russen. Ein Stoff, der auf einen Tolstoi wartet. Ob ein dem russischen Dichter vergleichbarer Epiker des „Unternehmens Barbarossa“ noch die Bühne betritt, scheint aber zweifelhaft. Denn eine wichtige Voraussetzung, um aus der Weltgeschichte große Literatur zu formen, ist seit Homer und Thukydides die Zeitgenossenschaft. Mindestens jedoch ein Leben in jenem Erinnerungsraum, der den welthistorischen Moment eine Generation lang konserviert. So wuchs Leo Tolstoi in einer Gesellschaft auf, in der es vor Veteranen der großen Schlachten gegen Napoleon nur so wimmelte, die ihm das Material zu „Krieg und Frieden“ (1868) gesprächsweise überlieferten.

Warum bedeutsame, im kollektiven Gedächtnis bis heute verankerte Segmente des Zweiten Weltkrieges keine adäquate literarische Umsetzung erfuhren, hat schon W. G. Sebald am Bespiel des alliierten Bombenterrors gegen die deutsche Zivilbevölkerung zu ergründen versucht. „Flucht und Vertreibung“ aus dem Osten Deutschlands zogen ebenso tiefe Furchen in der Massenseele, fanden aber ebensowenig einen Autor, der ihrer Darstellung gewachsen wäre. Dafür einige, die daran scheiterten, wie der unvermeidliche, im „Krebsgang“ sich fortbewegende Günter Grass. Und beim Rußlandfeldzug bliebe man gar auf Konsalik-Niveau („Der Arzt von Stalingrad“) stehen, gäbe es da nicht wenigstens Jörg Friedrichs genialische Kompilation „Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in Rußland 1941 bis 1945“ (2. Auflage 1996), die vielleicht atmosphärisch viel dem Umstand verdankt, daß ihr 1944 geborener Verfasser in einer sich erst langsam zur „Bevölkerung“ umbauenden Volksgemeinschaft aufwuchs, deren Männer bis 1945 überwiegend „im Felde“ waren.

Fünfzehn Jahre jünger als Friedrich, erfüllt der Militärhistoriker Christian Hartmann, ein Kind der „Wirtschaftswunder“-Ära, die für den Geschichts-epiker elementare Voraussetzung zumindest mittelbarer Zeitgenossenschaft zwar nur noch mit Einschränkungen, aber für eine, wenn auch nicht weltliterarischen Rang erreichende, so doch mit dem „Gesetz des Krieges“ an Intensität gleichziehende Darstellung des Rußlandkrieges hat es gelangt. Quantitativ allemal, denn die kleingedruckten, mit gefühlten 8.000 Fußnoten gespickten 900 Seiten seines Monumentalgemäldes über die „Wehrmacht im Ostkrieg“ beweisen hinlänglich, daß hier jemand auf der Marathondistanz mit Tolstoi und Friedrich locker mithalten kann.

An Material fehlte es Hartmann nicht. Der Kampf des deutschen Heeres war auch ein Papierkrieg. Er hinterließ Kilometer von Akten, die im Freiburger Militärarchiv lagern. Um noch in diesem Leben dort wieder herauszukommen, beschränkte Hartmann sich auf die Zeugnisse von nur fünf Divisionen und begrenzte seine Untersuchung auf die Monate vom 22. Juni 1941 bis zum Frühjahr 1942. Für diesen „Mikrokosmos“ der Ostfront wählte er die 4. Panzerdivision aus, ein Eliteverband, der sich fast an die Stadtgrenze von Moskau herankämpfte. Dazu als „durchschnittliche“ Kampfdivision die Oberösterreicher der 45. ID, und, als „unterdurchschnittlich“, die 296. Infanteriedivision, sowie die 221. Sicherungsdivision, einen „frontfernen Besatzungsverband“, und den „Korück 580“, einen im frontnahen Rückwärtigen Heeresgebiet operierenden Verband. Einsatzraum aller Divisionen war der Mittelabschnitt der Ostfront.

Hartmann gönnt sich gut 200 Seiten, um mit sozialhistorischer Akribie ihre innere Struktur zu beschreiben, die „Kader“, also das Offizierskorps zu charakterisieren, dessen Nähe oder, wie beim „stockkonservativen Preußen“ General Dietrich von Saucken, dessen souveräne Ferne im Verhältnis zum Nationalsozialismus abzumessen, die erschreckenden Verluste zu bilanzieren und aufgrund dieser Daten seine fünf Divisionen als „Prototypen des deutschen Ostheeres“ zu präsentieren. Auf weiteren 200 Seiten schildert Hartmann den Alltag des Krieges, die siegreichen Wochen des Vormarsches, den verhängnisvollen Schwenk, um „den Russen“ in ukrainischen Kesselschlachten zu vernichten, der den Stoß auf Moskau um Wochen verzögerte, schließlich das absehbare Steckenbleiben im herbstlichen Schlamm und die winterliche Wende hundert Kilometer vor Stalins Machtzentrum.

Die Vokabel, die der Autor dabei am häufigsten verwendet, heißt „Unterschätzung“. Auch wenn man bereit ist, der Wehrmachtführung Clausewitz’ Weisheit zu konzedieren, der Krieg sei das Gebiet des Zufalls, konturiert Hartmann doch derart unfaßliche, verantwortungslose Leichtfertigkeiten bei der Vorbereitung und Durchführung von „Barbarossa“, daß aus der Perspektive des Frontsoldaten die Grenze zwischen Vabanquespiel und dem Zug der Lemminge kaum noch erkennbar ist. Wie unter diesen Kautelen die letzten Panzer der „Vierer“ es überhaupt in die Nähe Moskaus schafften, grenzt an ein militärisches Wunder.

Dieses dramatische Aus-dem-letzten-Loch-Pfeifen seit September 1941, diese Dauerimprovisation der ungenügend mit Nachschub an Menschen und Material versorgten Einheiten forderte seinen Preis: das Kriegsvölkerrecht. Im Angesicht der ersten drohenden Niederlage habe sich die deutsche Kriegführung gegen die Rote Armee sichtlich brutalisiert. Auch die auf die Befreiung vom Sowjetjoch hoffende Zivilbevölkerung sei härter angefaßt worden. Mit solchen Thesen, die über die Mißachtung des Völkerrechts durch die Sowjetarmee vom ersten Kriegstag an lässig hinwegsehen, ist man beim Herzstück des Hartmannschen Epos, den 320 Seiten unter der lakonischen Überschrift „Verbrechen“. Die seien an Kommissaren und anderen bolschewistischen Funktionären, an Kriegsgefangenen, Juden und Partisanen begangen worden. Und zwar überwiegend von den Soldaten im rückwärtigen Heeresgebiet.

Anzuerkennen ist die kühle Sachlichkeit, mit der Hartmann in diesem Kontext die steilsten Thesen von Ideologen wie Hannes Heer oder Christian Gerlach ad acta legt. Auch an den bei seinen jüngeren Kollegen wie Felix Römer (JF 10/09) so beliebten Anklagen, Partisanen und Kommissare wären eher die schiere Mordlust kaschierende „Konstrukte“ und propagandistische „Projektionen“ gewesen, Phantome also, findet der Münchner Zeithistoriker kaum Geschmack. Andererseits mag er sich von vergleichbaren zeitgeistigen Verengungen über weite Strecken selbst nicht freizumachen. Das gilt für seinen enthemmten Moralismus, der dort, wo „Schuld“ im strafrechtlichen Sinne nicht vorliegt, sich gegen mutmaßliche, unterstellte Gesinnungen austobt.

Eine auf Fakten gestützte „exponierte Rolle beim Holocaust“ kann er indes nur bei der 221. Sicherungsdivision – stellvertretend für die Besatzungsverbände – nachweisen, was immerhin zum vorsichtigen Resüme führt, mit „Pauschalierungen“ solle man sich beim „Thema Wehrmacht und Holocaust“ lieber zurückhalten. Um leider sogleich mit der Pauschalierung aufzuwarten, „Teile des Ostheeres“ seien wegen ihrer Anpassung an die NS-Rassenideologie als „moralisch verkommen“ zu diskreditieren. Trotzdem reicht Hartmanns mitunter aporetische Zurückhaltung des Urteils aus – so wie die „Bewußtseinslage der Nation“ nun einmal beschaffen ist –, um ihm zuzubilligen, daß sein aktengesättigtes Epos über den Rußlandkrieg den Fensterspalt für einen „differenzierten Blick auf die Wehrmacht“ freigibt. Mehr geht zur Zeit nicht.

Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42. R. Oldenbourg Verlag, München 2009, gebunden, 928 Seiten, Abbildungen, 59,80 Euro

Foto: Störungssuchtrupp von Fernmeldern  der Wehrmacht in russischer Ortschaft, 19. Februar 1942: Dauerimprovisation der seit September 1941 ungenügend mit Nachschub versorgten Einheiten

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