© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Sozialstaat in Gefahr
Die Deiche weichen auf
von Jürgen Liminski

Will you still need me, will you still feed me when I’m sixty-four“: Wirst Du mich noch brauchen, wirst Du mir noch zu essen geben, wenn ich einmal 64 bin? So sangen die Beatles vor vierzig Jahren, und man kann wohl unterstellen, daß sie damals nicht an die Rentendebatte von heute dachten, sondern an die – wie es Soziologen nennen – Haltbarkeit einer Zweier-Beziehung.

Aber der lockere Song aus dem Jahr, als die Pille die demographische Kurve knickte, hat heute sozusagen gesellschaftliche Relevanz in ganz Europa, besonders aber in Deutschland bekommen. Es steht nicht gut um die Beständigkeit von Beziehungen, und auch der Generationenvertrag steht auf dem Prüfstand und mit ihm die sozialen Sicherungssysteme, ja der Sozialstaat insgesamt. Daß die großen Parteien sich über dieses Zukunftsthema von heute nicht in einem gemeinsamen reformerischen Kraftakt einigen können, gehört wohl zum politischen Strategiespiel der Kurzsichtigen. Aber die heute erwerbstätige Bevölkerung fragt sich mit Blick auf die zahlenmäßig immer kleineren nachwachsenden Generationen: Wer wird mir zu essen geben, wenn ich einmal 64 bin, wer wird mich pflegen, wenn ich dann 80 bin, und wer wird meine Würde achten, wenn ich nicht mehr gebraucht werde am Produktionsstandort Deutschland?

Noch dümpelt die Diskussion so dahin. Denn die Rentner von heute und der nächsten zehn Jahre leben nicht schlecht – jedenfalls weit besser als frühere Rentner-Generationen. Die Wirtschaft hat sich darauf eingestellt. Es gibt immer mehr Geschäfte, Fabriken und Kaufhäuser, die sich auf das Leben nach 60 spezialisieren. Hier ist wirtschaftliches Wachstumspotential. Aber der Rententopf ist kein Tischleindeckdich, er wird in wenigen Jahren nur noch ein schwarzes Loch sein. Denn in spätestens zehn Jahren geht die Generation der geburtenstarken Jahrgänge („Baby-Boomer“) in Rente, und gleichzeitig schmilzt die Erwerbsbevölkerung, also die Generation der Beitragszahler. Für die Rentenkasse heißt das: erheblich mehr Ausgaben und drastisch weniger Einnahmen. Hier muß strukturell reformiert werden. Aber niemand traut sich an diese Strukturreform. Alle Parteien fürchten, daß ihnen dann die älteren Wähler von der imaginären Parteifahne gehen.

Unser Sozialsystem ist auf die Erwerbsarbeit fixiert. Wenn die Arbeit abnimmt oder gar wegbricht, kann sie die Gesellschaft nicht mehr zusammenhalten. Der Generationenvertrag war entworfen für die Vollerwerbsgesellschaft, die in Europa so nicht mehr existiert.

Schon heute ist Deutschland das älteste Land Europas und das zweitälteste der Welt (nach Japan), der Abstand zu anderen Staaten wird noch größer werden. Gerade dieses Faktum aber müßte die Politik aufrütteln. Sie muß neue Formen des Sozialen und des Zusammenlebens finden und jene Formen fördern, die das Zusammenleben bereits praktizieren, vor allem die Familie. Anfangen könnte man mit einem Appell wider das Vorurteil, wonach Junge und Alte sich im permanenten Konflikt befänden. Das wird uns vor allem in Medien immer wieder eingeredet. Es stimmt nicht. Die Generationen können sehr gut miteinander auskommen, müssen es übrigens auch. Und der Blick ins Ausland offenbart: Dort gibt es Leihomas und Leihopas, dort gibt es Senioren, die Studenten mit Krediten fördern, die dann als Aufbesserung der Rente zurückfließen, dort gibt es Wohngemeinschaften mit mehreren Generationen, ganze Dörfer finden sich in solchen Patchwork-Großfamilien zusammen, ohne daß es zu Mord und Totschlag kommt. Es wird über vieles debattiert in Deutschland; wäre die Zukunft unseres Zusammenlebens nicht auch den Schweiß der Edlen, eine große Debatte jenseits der Rentenzahlen wert?

Diese Debatte aber findet nicht statt. FDP-Chef Westerwelle hatte daran gekratzt, aber nur an der Hartz-Seite. Jetzt hat er die Kanzlerin dafür gewonnen, bei dieser Gruppe zu sparen. Insofern ist das Sparpaket nur logisch. Wenn man Eltern, die Hartz IV beziehen, das Elterngeld streicht, dann – so mag die Kanzlerin auch von ihrer Freundin Alice Schwarzer gelernt haben – bekommen nicht mehr die Falschen die Kinder. Denn Kinder aus armen und bildungsarmen Familien sind in den Augen dieser Regierung offenbar nur Kostgänger und spätere Problemkinder.

Logisch ist auch, den Hartz-IV-Empfängern die Beiträge zur Rente zu streichen. Das spüren die Hartz-IV-Leute nicht, es entlastet aber den Haushalt heute und die Rentenkasse später. Daß die Hartz-IV-Rentner dann weniger Rente haben werden und die Altersarmut damit wächst, vielleicht sogar bis in die Sozialhilfe, das soll ein Problem der Kommunen und späterer Regierungen sein.

Für später, nämlich für den Winter, ist übrigens auch das Thema des Heizkostenzuschusses für Sozialhilfeempfänger. Seine Streichung ist symbolisch: Sie steht für die soziale Kälte dieser Regierung. Dazu paßt auch die Streichung des Übergangsgeldes von Arbeitslosengeld I zu Hartz IV. Dem gegenüber stehen Kürzungen von Subventionen bei der Wirtschaft – Gelder, die die Unternehmen locker bei ihren Kunden wieder eintreiben werden.

Das scheint das Grundgesetz dieser Regierung zu sein: Man hätschelt die Reichen und peitscht die Armen – weil man von den Reichen Wachstum erhofft, von den Armen Belastungen befürchtet. Das ist das Denken von neureichen Bildungsarmen. Tatsache ist: Die Fundamente drohen fortgeschwemmt zu werden. Ein Beispiel: Das Sozialsystem in Deutschland ist auf die Erwerbsarbeit fixiert. Wenn die Arbeit abnimmt oder gar wegbricht, kann sie die Gesellschaft nicht mehr zusammenhalten. Der Generationenvertrag war entworfen für die Vollerwerbsgesellschaft. Aber die gibt es in Europa nicht mehr. Der soziale und technologische Umbruch zwingt zu neuen Systemen, zu neuen Feldern der Produktion, zur Neubestimmung von Arbeit und auch zum Überdenken des Dogmas Wachstum.

Aber hier stehen wir vor einer Innovationsblockade. Es hat doch immer so gut geklappt bis heute – mit der Rente, dem Gesundheitswesen, dem So­zialstaat. Vielleicht ist das ein Geheimnis der deutschen Misere: der Mangel an Phantasie bei den etablierten Parteien, die geistige Sklerose der politischen Klasse, das Besitzstandsdenken des politisch-medialen Establishment in Berlin.

In der Tat muß man sich fragen: Wie reformfähig und reformwillig sind die Deutschen noch? In seinem Buch „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ kommt schon Wilhelm von Humboldt zu dem Schluß, daß erst dann schmerzhafte Reformen angegangen würden, wenn der Staat sozusagen richtig pleite ist. Denn, so Humboldt, „unter das Joch der Notwendigkeit beugt jeder willig den Nacken“. Mit anderen Worten: Ist es noch nicht schlimm genug in Deutschland, oder ist das Schlimme noch nicht erkannt? Oder kommen die Reformen erst, wenn die Baby-Boomer in Rente gehen, die Kassen leer, die Fachkräfte weg sind und die Unruhe sich auf die Straße verlagert? Wenn es zu spät ist?

Es gäbe Alternativen. Zum Beispiel das Schweizer System. Dort zahlen alle, nicht nur die Lohnabhängigen, in die Rentenkasse. Es geht nach Einkommen, also auch Kapitaleinkommen wie Zinsen, Aktiengewinne etc., nicht nur nach Lohn. Und die Rentenleistung selbst ist nach oben und unten begrenzt. Die Mindestrente beträgt rund 900 Euro, die Maximalrente rund 2.200 Euro, ganz gleich, wieviel der einzelne Rentner eingezahlt hat. Das bedeutet eine Umverteilung von oben nach unten und mehr Stabilität in der Kasse. Seit der Einführung dieses Systems Mitte der siebziger Jahre liegt der Beitragssatz für die Rente konstant bei 8,5 Prozent des Einkommens. In Deutschland ist der Satz kontinuierlich gestiegen und liegt jetzt bei 20 Prozent. Trotzdem ist die Kasse leer.

Wie reformfähig und reformwillig sind die Deutschen? Ist es noch nicht schlimm genug, oder ist das Schlimme nicht erkannt? Kommen die Reformen erst, wenn die Baby-Boomer in Rente gehen, die Kassen leer sind und die Unruhe sich auf die Straße verlagert?

Humboldt hat insofern recht, als die persönliche Betroffenheit erst dann wirklich erkannt wird, wenn der Bürger Angst bekommt. So weit sind wir aber noch nicht. Noch beugt der Bürger nicht willig den Nacken. Deshalb ist die Debatte um den Sozialstaat vorläufig versandet. Aber für jeden, der sich mit dieser Materie ehrlich befaßt, ist klar: Ohne einschneidende Reform ist der umlagefinanzierte Sozialstaat schon wegen der Alterung der Gesellschaft nicht zu retten. Dabei ist die Problematik ein schlichtes Rechenexempel. Allen ist klar, daß ein Erwerbstätiger in zwanzig Jahren nicht mehr die Last für die Alten schultern kann – zusätzlich zu seiner Familie, sofern er sich dann noch eine leisten kann.

Der frühere Arbeitsminister Olaf Scholz, der nie viel übrig hatte für Familien mit Kindern, bezeichnet solche „Negativprognosen schlauer Professoren und schlauer Institute“ schlicht als „Panikmache“. Aber die „schlauen Professoren“, etwa der Experte für Generationengerechtigkeit Bernd Raffelhüschen, haben ausgerechnet, daß die Beitragszahler durch das Rentengarantie-Gesetz um Milliardenbeträge belastet würden. Ein anderer, der Gesellschaftsforscher Meinhard Miegel, rechnet damit, daß solche Gesetze noch in dieser Legislaturperiode kassiert werden (müssen).

Heute fließt jeder dritte Euro, der in Deutschland erwirtschaftet wird, in soziale Leistungen. Gemessen am Bruttosozialprodukt liegt der Anteil der Sozialausgaben damit bei 32 Prozent. Solche Zahlen sind alarmierend. Sie schmälern nicht nur die Kraft für einen Aufschwung und engen den Spielraum der Politik erheblich ein. Sie sind auch ein beunruhigendes Zeichen für die Flexibilität und die Dynamik in Deutschland. Offenbar verläßt man sich lieber auf Vater Staat als auf seine eigenen Kräfte.

Das könnte sich sehr bitter rächen, sollte der Staat einmal zahlungsunfähig sein oder in eine große Inflation rutschen. Bei den wirtschaftlich nicht gedeckten Milliardenbeträgen für die Banken und angeblich systemrelevante Sektoren der Wirtschaft ist das keineswegs ausgeschlossen. Die Zeiten sind jedenfalls vorbei, da man wie unter Kohl und Schröder noch sagen konnte: Nach uns die Sintflut. – Wir stehen kurz davor. Aber kaum einer will es wissen. Und die Dämme weichen auf.

 

Jürgen Liminski, Jahrgang 1950, Diplom-Politologe, ist Publizist und Radio-Moderator und war Ressortleiter für Außenpolitik beim Rheinischen Merkur und der Welt. Derzeit ist er Geschäftsführer des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Sonntag als Tag der Arbeitsruhe („Alles zu seiner Zeit“, JF 52–53/09).

Foto: Unsere Zukunft: Schon heute ist Deutschland das älteste Land Europas und das zweitälteste der Welt (nach Japan). Gerade dieses Faktum müßte die Politik aufrütteln. Sie muß neue Formen des Sozialen und des Zusammenlebens finden und jene Formen fördern, die das Zusammenleben bereits praktizieren, vor allem die Familie.

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