© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

„Ein wichtiges Signal“
Gedenkpolitik: 60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen
Ekkehard Schultz

Es war eine Willenskundgebung der besonderen Art, als sich am 6. August 1950 über 150.000 Ostdeutsche vor dem Stuttgarter Schloß trafen. Dort bekundeten die Vertriebenen mit der „Charta der Heimatvertriebenen“ ihren Willen zur Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn. Indem sie in einer eindrucksvollen Proklamation erklärten, auf jegliche „Rache und Vergeltung“ zu verzichten, schufen sie selbst eine wichtige Voraussetzung, um die Spirale von Nationalismus und Gewalt anzuhalten.

Aus Anlaß des bevorstehenden sechzigsten Jahrestags widmete sich die Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin diesem Meilenstein der Versöhnungspolitik. Für die Präsidentin  des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, stellt die Charta ein „wichtiges Signal in einer sehr schwierigen Zeit“ dar. Denn die Voraussetzungen für eine solche Erklärung waren fünf Jahre nach Kriegsende denkbar schlecht. Viele Vertriebene in Westdeutschland waren arbeitslos und lebten noch in Notunterkünften, standen am Rande der Gesellschaft und wurden in erster Linie als Belastung empfunden. 

Um so wichtiger sei es gewesen, daß sich die Vertriebenen selbst zu Wort gemeldet hätten, sagte Steinbach. Sowohl die Entscheidung für den Frieden und zur Aussöhnung mit den Nachbarn als auch die Bekundung des Willens, sich in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren, seien sehr positiv aufgenommen worden. Daher könne man sagen, daß „die Botschaft von Stuttgart bis heute gewirkt“ habe, sagte Steinbach.  

Auch nach der Auffassung des  Würzburger Historikers Matthias Stickler ist die Charta eine wichtige Wegmarke der Nachkriegszeit. Denn das Dokument habe sich eng an den allgemeinen gesellschaftlichen Konsens der Nachkriegszeit angelehnt. Offensichtlich seien die direkten Bezüge von der Charta zum Grundgesetz, so etwa beim Gottesbezug und dem Bekenntnis zu einer europäischen Zukunft. Auch der antikommunistische Duktus habe dem Stil der Entstehungszeit entsprochen. In diesem Zusammenhang sei es daher nicht verwunderlich, daß die Charta damals von den demokratischen Parteien befürwortet worden sei. 

Auf der anderen Seite mahnte Stickler jedoch, nicht zu übersehen, daß einige in der Deklaration enthaltene Forderungen auf falschen Voraussetzungen beruht hätten. So sei damals die Illusion verbreitet gewesen, daß die Vertreibung der Deutschen in erster Linie auf dem Willen der kommunistischen Parteien der Vertreiberstaaten beruht habe. Deswegen sei auch davon ausgegangen worden, daß in dieser Frage ein deutlicher Unterschied zwischen der Bevölkerung dieser Länder und der dortigen Staats- und Parteiführung bestanden hätte. Dies sei jedoch nicht der Fall gewesen. Damit seien auch die Hoffnungen, daß eine enge Zusammenarbeit der deutschen Heimatvertriebenen mit antikommunistisch gesinnten Polen und Tschechen auf eine größere positive Resonanz stoßen könnte, von Anfang an illusorisch gewesen.

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