© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

Selbstmord einer Richterin
Berlin: Kirsten Heisig ging konsequent gegen Kriminelle vor, nun nahm sie sich das Leben
Ronald Gläser

Kirsten Heisigs Konzept war so einfach wie einleuchtend: Die Strafe hat auf dem Fuße zu folgen. Nur dann lernen gerade „angehende“ Kleinkriminelle, daß sie besser die Finger von krummen Geschäften, Diebstählen oder Überfällen lassen. Vergehen dagegen mehrere Monate, bis ein geschnappter Delinquent verurteilt wird, so hat er die Tat längst vergessen und obendrein viele weitere Straftaten begangen, was ihm das Gefühl vermittelt: Du kannst dir hier alles erlauben.

Die 48 Jahre alte Jugendrichterin war zuständig für das Rollbergviertel, den schlimmsten Stadtteil von Berlin-Neukölln. Sie hat dort mit ihrem Konzept aufgeräumt und wurde dadurch in kurzer Zeit zur bekanntesten Richterin Berlins. Ihr Konzept der schnellen Strafen wurde im Juni auf die ganze Stadt übertragen. Das war ein handfester Erfolg für die als starke Persönlichkeit geltende Frau. In zwei Monaten soll ihr Buch „Das Ende der Geduld erscheinen“, in dem sie ihr Modell erläutert und Vorschläge für eine handfeste Justiz liefert. Noch ein Erfolg für die couragierte Richterin.

Doch in der vergangenen Woche hat sich Heisig das Leben genommen. Ihre letzten Minuten könnten so abgelaufen sein: Sie schreibt ihrer Tochter eine Art Abschieds-SMS („Ich habe alles falsch gemacht“). Anschließend fährt sie nach Berlin-Heiligensee und parkt ihr Auto am Straßenrand. Dann klettert sie auf einen Baum und nimmt einen Strick, den sie vorher in einem Baumarkt gekauft haben könnte. Sie wickelt den Strick um einen Baum und sich selbst um den Hals – und springt herunter.

In vielen Internetforen wird dieser Selbstmordthese mißtraut, auf die sich die Medien und die Justizbehörden erstaunlich schnell geeinigt haben. Denn noch sind einige Fragen unbeantwortet: Warum hinterließ Kirsten Heisig keinen Abschiedsbrief? Sie mußte damit rechnen, daß jemand zu Unrecht beschuldigt werden könnte, wenn sie es nicht tut. Schließlich gab es viele Straftäter, die eine offene Rechnung mit ihr haben. Die SMS beweist indes gar nichts. Jeder könnte sie getippt haben. Und warum korrigiert Kirsten Heisig noch die Druckfahnen ihres Buchs und besucht einen Onkel in Waidmannslust – unweit vom späteren Fundort? Der Familienangehörige habe ihr nichts angemerkt, heißt es. Warum hat sie den für Frauen exotischen Tod durch den Strick gewählt? Ein „männlicher“ Freitod, wie Experten sagen. Selbstmörderinnen schneiden sich dagegen häufig in der Badewanne die Pulsadern auf oder nehmen eine Überdosis Medikamente. Und warum hat die Polizei die Leiche erst am Sonnabend gefunden? Seit Mittwoch war in einem überschaubaren Gebiet intensiv nach ihr gesucht worden.

Auch wenn manche Fragen noch unbeantwortet sind, so sind die Fakten doch eindeutig: Die Polizei hat keine Spuren gefunden, die auf eine Fremdeinwirkung schließen lassen. Heisig scheint freiwillig aus dem Leben geschieden zu sei. Sie soll wegen Depressionen in Behandlung gewesen sein, wird berichtet. Viel Arbeit, wenig Freizeit, ständiger Umgang mit Kriminellen und gescheiterten Existenzen – das kann an den Nerven zehren. Aber hat sie sich aus diesen Gründen umgebracht?

Aus ihrem Umfeld werden unterschiedliche Dinge berichtet. Ein Rechtsanwalt, der sie kennt, sagt vorsichtig: „Dazu kann ich nichts sagen.“ Das heißt nichts, hört sich aber eher so an, als würde er es ihr zutrauen. Heinz Buschkowsky (SPD) dagegen hält es zunächst für unmöglich. Der Neuköllner Bezirksbürgermeister erinnert sich, daß sie großer Fußballfan war. Er sagte: „So jemand bringt sich doch nicht um. Schon gar nicht während der Fußballweltmeisterschaft.“ Das klingt fast schon verzweifelt.

Buschkowsky verrät aber auch einiges über den täglichen Druck, dem Heisig in ihrer Behörde ausgesetzt war. „Gerade in der Startphase des Neuköllner Modells verhielten sich Justiz und Polizei ihr gegenüber distanziert. Manche versuchten sie auch richtig in die Pfanne zu hauen“, sagte Buschkowsky dem Tagesspiegel. Sie selbst hat darüber geklagt, sich wie ein „Exot“ vorzukommen und von ihren Kollegen nicht akzeptiert zu werden. In der Kantine saß sie oft allein, heißt es. Liegen hier vielleicht die Gründe für ihren Suizid?

Die Tote hinterläßt zwei Töchter (13 und 15) und ein Justizmodell, das seit wenigen Wochen in ganz Berlin gilt.

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