© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

Die Täterrolle will keiner übernehmen
Bosnien-Herzegowina: Das Massaker von Srebrenica war Teil des jugoslawischen Zerfallsprozesses / Vergessene deutsche Opfer
Peter Wassertheurer

Das Massaker in der ostbosnischen Kleinstadt Srebrenica war Teil des jugoslawischen Zerfallsszenarios. Bosnische Serben verübten im Juni 1995 an der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung einen Völkermord, dessen juristische Aufarbeitung noch längst nicht abgeschlossen ist.

Die Verantwortung für Morde trugen Einheiten der Armee der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina (VRS). Für viele Serben war das Massaker lediglich die Antwort auf eigene leidvolle Erfahrungen: „Wieso zeigen die westlichen Medien keine Filme, in denen die Serben Opfer grausamer Verbrechen sind?“ fragte etwa der serbische Schriftsteller Nikola Živković (JF 31-32/05). Er erinnert daran, daß im August 1995 die Vertreibung von etwa 200.000 Serben aus ihren Häusern und Dörfern in der heute zu Kroatien gehörenden serbischen Krajina begann.

Mörderische Brutalität gab es bei allen Konfliktparteien

Die Stadt Srebrenica (mit deutschem Namen Silberin) stand schon vor 1995 im Epizentrum ethnischer Konflikte. Die Fronten verliefen damals quer durch Bosnien entlang ethnischer Grenzen. Bosnien-Herzegowina sagte sich im März 1992 von der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien los. Für die 1,7 Millionen bosnischen Serben war das eine Kampfansage. Sie gründeten die unabhängige Republika Srpska (RS) und wollten den Anschluß an Serbien. Aus den in der RS stationierten Truppen der jugoslawischen Volksarmee ging unter Radovan Karadžić die VRS hervor. Die militärische Führung lag bei Ratko Mladić. Mladić wird bis heute vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wegen Völkermordes gesucht. Dem „Schlächter vom Balkan“ gelang es, mit seinen 85.000 Soldaten 70 Prozent des bosnischen Gebiets zu erobern. Logistische Unterstützung erhielt die VRS aus Belgrads Kasernen.

Zeitgleich verübten zumeist ausländische Mudschaheddin, die ihren bosnischen Glaubenbrüdern halfen, 1993 bis 1994 Greuel an Serben und Kroaten. Für diese Massaker stehen die Orte Vozući nahe des Berges Ozren, Livade, Maline, Bikoši oder das KZ Kamenica. Die Brutalität, mit der sich Serben, Kroaten, Bosnier und die Mudschaheddin begegneten, erinnert an den Zweiten Weltkrieg: Damals lieferten sich die kroatischen Ustascha, die serbischen Tschetniks, die slowenischen Domobranzen und Titos Partisanenverbände blutigste Scharmützel. 1946 forderte der jugoslawische Bürgerkrieg eine Million Opfer. Was unter Titos Herrschaft folgte, war eine Verdrängung der Verbrechen. Nach dem europäischen Wendejahr 1989 kehrten viele Schatten aus der Vergangenheit zurück.

Die Frage nach Schuld und Unschuld kennt viele Antworten – eine serbische ebenso wie eine bosnische oder kroatische. Am 10. Juni 2010 verurteilte der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) sieben serbisch-bosnische Offiziere wegen „Beteiligung am Völkermord“ zu Haftstrafen von fünf Jahren bis lebenslänglich. Das Haager Tribunal erkennt in den VRS-Massakern eine klare Absicht, die bosnischen Muslime als Bevölkerungsgruppe eliminieren zu wollen. Nach der Völkermordkonvention muß die Absicht erkennbar sein. Dagegen wurde Serbien vom Genozid-Vorwurf freigesprochen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) wies daraufhin bosnische Entschädigungsforderungen von 76,1 Milliarden Euro zurück. Für Belgrad bleibt jedoch die IGH-Kritik, nichts gegen den Völkermord unternommen zu haben. Belgrad ist um Diplomatie bemüht. Das Land will in die EU und setzt auf verbale Abrüstung. Das serbische Parlament entschuldigte sich für die Verbrechen in Bosnien. Von einem Völkermord wird darin freilich nicht gesprochen.

Der Makel der Untätigkeit haftet auch an der Uno. 1995 überließen niederländische Blauhelme die internationale Schutzzone um Srebrenica den VRS-Truppen. Die „Mütter von Srebrenica“ verlangen daher die Revision eines Urteils, das der Uno juristische Immunität zuerkannt. Sie wollen die UN-Verantwortlichen auf die Anklagebank bringen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg steht noch aus. Zwischen Serben, Kroaten und Bosniern sind auch die Opferzahlen strittig. Man minimiert die der anderen und treibt die eigenen in die Höhe. Die Täterrolle will keiner übernehmen. Die jüngsten Schätzungen lauten: 50.000 getöteten bosnischen Muslimen stehen etwa 42.000 serbische Opfer gegenüber.

Mit Srebrenica markiert ein Völkermord das Ende des sozialistischen Jugoslawien. Daß an dessen Beginn ebenfalls ein Völkermord stand, macht die südosteuropäische Tragödie seit 1918/19 komplett. Ab 1945 wurde Titos Jugoslawien von der deutschen Bevölkerung „ethnisch gesäubert“. Von den über 500.000 Donauschwaben, Deutsch-Untersteirern und Gottscheern kam die Hälfte  bis 1948 in Konzentrationslager. Über 60.000 von ihnen starben dort. Für den deutschen Völkerrechtler Dieter Blumenwitz (JF 16/05) erfüllte auch dieses Gewaltverbrechen den Tatbestand des Genozids.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen