© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

Pankraz,
W. Backes und das Leben im Nachtcafé

Seit über zwanzig Jahren gibt es im Fernsehen (vom SWR) eine Talkshow, in der es jedes Mal ums Ganze geht, die Politik aber bewußt außen vor gehalten wird: das von Wieland Backes geleitete „Nachtcafé“. Die Themen dort heißen etwa: „Wird die Liebe überschätzt?“ – „Verdirbt Geld den Charakter?“ – „Problemzonen“ – „Falsche Idole“. Es beginnt immer sehr dräuend und schicksalsschwanger, doch am Ende kommt stets heraus, daß es so schlimm auch wieder nicht ist. Hauptsache, man kann darüber kakeln.

Letzten Freitag fiel das Nachtcafé gewissermaßen ins heiße Sommerloch. Man sendete eine Wiederholung aus frühen Tagen, aber die hatte es in sich. „Ein erfülltes Leben – was ist das?“ fragte Backes seine Gäste, darunter einen zen-buddhistischen Mönch aus Japan, einen Alt-Schlagersänger, eine „High Society Lady“, einen Arzt, einen  „Ex-Bobfahrer“, der später Unternehmer wurde, schließlich Schauspieler und – last but not least – die Leiterin einer philosophischen Praxis in München, Rebekka Reinhard.

Alle mühten sich redlich, und am Ende kam heraus, daß jeder der Anwesenden (und sogar der „auf dem Sofa“ zugeschaltete junge Mann, der tragischerweise an multipler Sklerose erkrankt war) ein erfülltes Leben gehabt hatten, bzw. noch hatten. Frau Reinhard verwies auf ein von ihr verfaßtes Buch mit dem Titel „Die Sinn-Diät. Warum wir schon alles haben, was wir brauchen“. Es stellte sich heraus, daß sämtliche Gesprächsteilnehmer bereits von dieser famosen, „ganzheitlichen“ Diät gekostet hatten. Sie glaubten tatsächlich, schon „alles“ zu haben. Das Publikum spendete freundlichen Applaus.

Pankraz indes verharrte einigermaßen verdrießlich. Natürlich, die Suche nach dem „richtigen“ Leben ist gleichsam menschlicher Grundantrieb und Generalthema von Philosophie und Theologie seit Jahrtausenden. Daß aber jedes richtige Leben, wie im Nachtcafé nahegelegt, auch ein „erfülltes“ Leben sei, leuchtete ihm nicht ein. Was heißt denn „Erfüllung“? Man kann sich einzelne Wünsche erfüllen, und manchmal erfüllen sich auch Sehnsüchte, von denen man nicht zu hoffen wagte, daß sie je erhört würden. Aber Erfüllung als Lebensganzes ist eine fatale Vorstellung, ja geradezu ein Übelwort.

Es klingt nach „Deckel zu, Affe tot“. Es weckt den Verdacht, als werde hier in aller Biederkeit etwas schöngeredet, was sich gar nicht schönreden läßt. Denn der Mensch, jeder Mensch, ist keine bloße Pusteblume, die irgendwann eingepflanzt wird, aufblüht, ihren Samen verstreut und dann eingeht. Der Mensch versucht, sich einen Vers aufs Ganze zu machen, und da das nicht gelingen kann, bleibt ein Stachel in ihm zurück, ein dauerndes Ungenügen, das durch die Religion zwar beruhigt, aber nicht ausgelöscht werden kann. Er weiß spontan: Etwas fehlt, vielleicht das Beste.

Die derzeitige, auch im Nachtcafé grassierende Mode, die Fehlanzeigen zu übersehen und das Leben, zumindest das eigene Leben, sich unbedingt „irgendwie“ rund zu reden, es als „erfüllt“ abzuheften, verweist auf geistige Unempfindlichkeit – und auf allzu großen Respekt vor Pharmazie und Chemie. Man glaubt nur noch an die Apotheke, glaubt allen Ernstes, es ließe sich ein chemischer Cocktail für erfülltes Leben zusammenschütteln, eine „Sinn-Diät“, wie Frau Dr. Rebekka Reinhard schreibt. Aber damit nähern sich Nachtcafé und andere Lebensberatungsstellen beinahe schon kabarettistischem Niveau.

Eckart von Hirschhausen, der zur Zeit wohl den größten Erfolg mit Ratschlägen für erfülltes Leben einheimst, war früher Kabarettist, ist es auch noch, wie er selbst zu betonen pflegt. Pankraz erinnert sich an ein Label für eine Kabarettserie von ihm, wo in drastischer Weise gezeigt wird, was man in diesen Kreisen letztlich unter Sinn-Diät versteht. Zwei offenbar hochintellektuellen Sinnsuchern, die sich zur Beratung in Hirschhausens Praxis eingefunden haben, wird da einfach eine massive pharmazeutisch-chemische Kanüle in den Hintern gejagt. Und dazu erschallt gewaltiges Gelächter aus dem Off.

Glücklicherweise ist das nicht alles. Der Suche nach dem „erfüllten“ Leben sind durchaus auch gute Aspekte abzugewinnen. Sie erzieht zu Gelassenheit gegenüber dem Tod und Schicksalschlägen, die einen hinterrücks überfallen und denen man nicht ausweichen kann. Sie ist ein gutes Gegenmittel gegen das ewige Zetern und Keifen von Zu-kurz-Gekommenen in der Politik und macht empfindlich für die sogenannten „kleinen“ Annehmlichkeiten und Freuden, die das Leben auch in stark reduzierten Situationen bereithält.

Ganze Literaturen und Kunstrichtungen manifestieren diese Empfindlichkeit, dieses einverständige Lauschen auf die Stimmen der Natur und auf den Rhythmus eines an sich banalen Alltags, in den man sich sinnhaft einfügt. Das Stichwort dafür heißt Idylle. Wunderbare Gemälde lassen sich darunter subsumieren, wunderbare Gedichte und Genreszenen. Aber gerade die besten von ihnen machen uns bewußt, daß etwas fehlt. Daß Erfüllung immer nur im gelebten Augenblick zu haben ist.

Jede Erinnerung an erfülltes Leben ist Erinnerung an solche gelebten Augenblicke, und jede dieser Erinnerungen enthält den Geschmack der Vergänglichkeit. Zumindest die vergehende Zeit hat nicht mitgespielt und wird nie mitspielen. Wir erfahren im gelingenden und mit Zärtlichkeit erinnerten Augenblick, wie Erfüllungen, die ihren Namen verdienen, schmecken, und können von da aus abschätzen, wie weit das Leben als Ganzes, mit seinem Anfang und seinen Niederlagen und seinem Ende, das ja eine schneidende Widerlegung des Ganzen ist, von wahrer Erfüllung entfernt ist.

Man kann das natürlich auch poetischer ausdrücken. Wie dichtete Pedro Calderón de la Barca in seinem gewaltigen Opus magnum mit dem Titel „Das Leben ein Traum“: „Das Leben ist ein Trugbild, ist ein Traum, / ein Schatten flüchtiger Gedanken.“ Er meinte den Traum von Erfüllung und Vollkommenheit. Wie flüchtig dieser Traum wirklich ist, wußte freilich auch er nicht.

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