© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

Mehr als nur Neurosenheilung
Ein Standardwerk über C. G. Jung in Neuauflage
Harald Harzheim

Einen Autor mit derart gewaltigem Themenradius wie C.G. Jung zu biographieren, so daß dessen Werk sich im Gesamtzusammenhang und in Wechselwirkung mit seiner Existenz erklärt – das ist wahrhaftig ein intellektueller Kraftakt. Gerhard Wehr, Spezialist für spirituelle Persönlichkeiten wie Jakob Böhme, Rudolf Steiner und Martin Buber, gelang dieses Kunststück schon vor drei Jahrzehnten. Sein Standardwerk über C. G. Jung, lange vergriffen, kam im kleinen, aber feinen Telesma-Verlag zur Neuauflage – in einer vom Autor überarbeiteten Fassung.

Zwei Konstanten werden aus Leben und Werk Jungs herausgeschält: die (innere) Dualität und der Individuationsprozeß. Sehr früh schon erkannte der kleine Carl Gustav zwei Persönlichkeiten in sich – das gegenwärtige Kind und ein überzeitliches Ich als ausgereifter Mann, im Stil des 17. Jahrhunderts gekleidet. Der stand für die intuitive, mystische Komponente seiner Persönlichkeit. Letztere – von seiner Mutter übernommen – reicht bis zu parapsychologischen Erfahrungen und spiritistischen Experimenten, die Jung als Psychiatriestudent veranstaltet.

Der spirituelle Mensch als fetter Materialist?

Der erste Markstein auf seinem Lebensweg ist die Begegnung mit der Psychoanalyse und deren Gründer, Sigmund Freud. Bei ihm stößt Jung auf baldige Gegenliebe. Freud ernannte ihn zum Kronprinzen und potentiellen Nachfolger. Aber anders als Freud, der sich für das individuelle Unbewußte interessierte, entwarf Jung das Modell eines „kollektiven Unbewußten“, angefüllt mit „Archetypen“, zeitlos-überpersönlichen Bildern, archaischem Menschheitserbe, das im Individuum fortwirkt.

Jungs dualistisches Leitmotiv hielt Einzug in die Theorie von Anima und Animus: Nach ihr trägt jeder Mensch Anteile des jeweils Gegengeschlechtlichen in seiner Psyche – also jede Frau einen Animus und jeder Mann eine Anima. Jung identifizierte die eigene Anima mit dem Intuitiven, der mütterlichen Erbschaft, verliebte sich in Frauen, durch die er jene Seite verkörpert glaubte: in die niederländische Ärztin Maria Moltzer und vor allem in Antonia Wolff, die zu seiner Patientin, Geliebten und Mitarbeiterin wurde.

Trotz des inspirierenden Einflusses durch Freud kam es zum Bruch mit dem Meister. Dessen Kronprinz war eben kein „Schüler“, kein „Nachfolger“, er hatte einen eigenen Weg zu gehen. Diesen höchsteigenen Pfad durchs Leben nannte er Individuationsprozeß: eine spirituelle Suche, eine Realisation der Persönlichkeit, die erst im Tod zum Abschluß kommt. So war Jungs „analytische Psychologie“ – wie er sie in Abgrenzung zur Psychoanalyse nannte – nicht nur Neurosenheilung, sondern ebenso Unterstützung der Individuation.

Gerhard Wehr geht es vor allem um eine anspruchsvolle Darstellung, weniger um kritische Diskussion. Das „Phänomen Jung“ wird erklärt, auf Einwände und Widersprüche aber meist verzichtet. Beispielsweise findet Jungs Selbsteinschätzung als primär spiritueller Mensch weitgehende Akzeptanz. Nur, warum bezeichnete James Joyces Tochter Lucia, seine Patientin, ihn nach einigen Behandlungsstunden als „fetten, materialistischen Schweizer“? Solche Äußerungen, ernst genommen und integriert, würden das Persönlichkeitsbild vielleicht um weiterführende Risse bereichern.

Andererseits muß man an Wehrs Biographie neben ihrem hohen Informationsgehalt auch die Inspirationskraft hervorheben: Sie macht Lust auf mehr Jung-Lektüre, auf eigenständige Beschäftigung mit seinen Themen, auf Befragung des I-Ging und des Jungianischen Tarots.

Gerhard Wehr: Carl Gustav Jung. Leben – Werk – Wirkung. Telesma-Verlag, Schwielowsee 2009, gebunden, 504 Seiten, 29,95 Euro

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