© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

„Laßt uns Grunwald wiederholen“
Erinnerungspolitik: Die Schlacht von Tannenberg im fernen Jahre 1410 als Herzstück polnischer Mythologie
Oliver Busch

Am 15. Juli 1990 will der Korrespondent des Warschauer Regierungsblattes Rzeczpospolita „Zehntausende“ seiner Landsleute, dazu „Tausende Litauer“ sowie Weißrussen und Russen gesichtet haben, nahe dem südostpreußischen Hohenstein traulich vereint zur Feier des 580. Jahrestages der „Schlacht von Grunwald“. Mit der polnischen Staatsspitze nebst Litauens Präsidenten Landsbergis und dem letzten „Sowjet-Botschafter“ an der Weichsel, dazu Sejm-Marschal, Ehrenkompanie, Heeresorchester und unentbehrliche Feldprediger wie der ermländische Bischof, war zudem alles anwesend, was zur offiziösen Staffage eines solchen Massenspektakels benötigt wird.

Kaum vorstellbar, daß der Anlaß, der an diesem heißen Julitag Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ins entlegene Hohenstein lockte, so unendlich weit zurücklag. Allein dieses Phänomen, eine Art Fernstidentifikation mit den Streitern jenes polnisch-litauischen Heeres, das am 15. Juli 1410 die Ritter des Deutschen Ordens vernichtend schlug, macht nicht das Ereignis historiographisch interessant, sondern dessen bemerkenswert zählebige Präsenz im kollektiven Bewußtsein. Über das Ereignis nämlich, eine der größten Schlachten des Mittelalters, ist die historische Forschung seit langem zur Ruhe gekommen. Nur allerletzte militärhistorische Quisquilien stehen noch aus, seit der schwedisch-deutsche Archivar Sven Ekdahl 1982 seine nahezu ultimative Studie über „Die Schlacht von Tannenberg 1410“ vorgelegt hat.

Der polnische König konnte seinen Sieg nicht umsetzen

Mit dem Titel dieser Monographie scheint zugleich der Namensstreit erledigt. Denn mit größerem Recht läßt sich die Schlacht nach dem Aufmarschort des Ordensheeres, dem Dorf Tannenberg in der Komturei Osterode, benennen, als nach dem 3.000 Meter entfernten Grünfelde (polonisiert: Grunwald), wo sich der polnische Heeresteil ins blutigste Gemetzel stürzte.

Als Ekdahls Standardwerk erschien, herrschte auch kein Streit mehr über die Bewertung der machtpolitischen Konsequenzen von „Tannenberg/Grunwald“. Der polnisch-litauische Sieg leitete das Ende der Großmachtstellung des Deutschordensstaates im Ostseeraum ein, die die Ritter vom Deutschen Haus seit ihrer Ankunft an der Weichsel (1231) auch mit polnischer Hilfe begründet hatten.

Auch wenn die Niederlage in Tannenberg den Orden, der mit mehreren hundert Ordensrittern die vielen tausend Söldner anführte, ins Mark traf und seiner Funktionselite samt Hochmeister Ulrich von Jungingen beraubte, waren die unmittelbaren politischen Auswirkungen marginal, da der polnische König seinen Sieg nicht umzusetzen vermochte. So konnte der Deutsche Orden durch die Behauptung seines Hauptsitzes, der Marienburg, wieder kurzfristig politische Handlungsfähigkeit erlangen. Territorial blieb der Ordensstaat weitgehend intakt, selbst das seit 1309 zwischen Polen und dem Orden immer wieder umstrittene Pommerellen westlich der Weichsel verblieb beim Ordensstaat. Im Frieden von Melnosee 1422 vermochte der Orden sogar gegen den Verzicht auf ohnehin außerhalb seiner Kontrolle stehende Gebiete in Litauen vom König von Polen die völlige Preisgabe aller territorialen Ansprüche auf Pommerellen, das Kulmer und das Michelauer Land zu erwirken.

Der Niedergang des Ordensstaates hatte vielmehr innere Gründe. So sehnten sich die preußischen Landstände und die aufstrebenden Hansestädte Danzig, Elbing und Thorn seit längerer Zeit nach mehr politischer und wirtschaftlicher Autonomie. Diese Spannung entlud sich endgültig über eine Generation nach Tannenberg im Dreizehnjährigen Krieg (1454 bis 1466) zwischen dem Preußischen Bund und dem Orden. Sein im zweiten Thorner Frieden (1466) arg dezimiertes Territorium sollte allerdings, 1525 verwandelt in ein weltliches Herzogtum, langfristig zur Basis der neuen europäischen Großmacht Brandenburg-Preußen werden, der es im 18. Jahrhundert gelang, dem innerlich zerfallenden Polen die Früchte des Sieges von 1410 – Westpreußen mit Danzig und das Fürstbistum Ermland – wieder zu entreißen.

Die Erinnerungspolitik, die übrigens schon am Tag nach der „Schlacht von Grunwald“ einsetzte, war natürlich primär eine Sache des Siegers. Die polnische Geschichtstheologie gab sich daher bereits im 15. Jahrhundert alle Mühe, in das Hauen und Stechen von 50.000 Männern einen göttlich entschiedenen Kampf zwischen Gut und Böse, den Sieg der polnischen Demut über deutschen Hochmut hineinzudeuten. Vor allem die katholische Kirche wurde deshalb zum Träger und Mittler der polnischen „Grunwald-Tradition“. Zumal im 17. und 18. Jahrhundert mit der Zahl der Feinde Polens auch die Nachfrage nach identitätsstiftender Symbolik stieg, die – wie Ekdahl in seinem grundlegenden Aufsatz zur Rezeptionsgeschichte (Journal of Baltic Studies XXXII, 1991) ausführt – „der Abgrenzung gegenüber dem Fremden und der Suche nach Feindbildern“ diente.

Im 19. Jahrhundert entfaltete sich der Schlachtmythos schließlich zur tropischen Blüte und geriet zum Herzstück bei der „Erfindung“ der polnischen, unter drei Nachbarreichen aufgeteilten Nation. Mit Adam Mickiewicz’ Epos „Konrad Wallenrod“ (1828) kündigte sich an, daß fortan Intellektuelle, Schriftsteller, Historiker, Künstler, neben der Geistlichkeit als Traditionsträger die Bühne bespielen würden.

Jan Matejkos monumentales Schlachtengemälde „Grunwald“ (1878) und Henryk Sienkiewicz’ Bestseller „Kreuzritter“ (1900) hinterließen im Kopfkino des polnischen Nationalismus nachhaltigste Eindrücke und schürten antideutsche Emotionen bis zu jenem Grad, als der Wunsch nach Wiederherstellung souveräner Staatlichkeit umkippte in wüsten Chauvinismus, der einen Roman Dmowski weit vor 1918 vom imperialistischen Ausgriff auf deutsche Provinzen fabulieren ließ.

Auch auf deutscher Seite erwuchs die Schlacht während des 19. Jahrhunderts zum Sinnbild für den Kampf gegen das Slawentum, bei dem Historiker wie Heinrich von Treitschke dem Ritterorden auf seiner „deutschen Mission im Osten“ eine besondere Kulturträgerfunktion zuwiesen. „Tannenberg“ war in dieser Deutung das Kürzel für den Abbruch solcher Bestrebungen. Infolgedessen beobachtete man die polnische Grunwald-Rezeption argwöhnisch, die dort wiederum als Chiffre für das im Abwehrkampf gegen die „germanische Flut“ sich wähnende „geeinte Polen“ strapaziert wurde und zur ersten großen Grunwald-Feier 1902 in Krakau auch ihr Mobilisierungspotential offenbarte. Und doch war sie nur ein Vorgeschmack auf die Inszenierung der 500-Jahrfeier, wiederum im damals österreichischen Krakau, die 150.000 „Patrioten“ anzog.

Unterpfand der Ansprüche auf „urpolnischen Boden“

So war es kein Zufall, daß man 1914 (angeblich auf Wunsch des dortigen Oberbefehlshabers Paul von Hinderburg) nach den erfolgreichen Abwehrkämpfen gegen die russische Armee in Ostpreußen die Bezeichnung „Schlacht von Tannenberg“ wählte, um die „Schmach von 1410“ im Kampf gegen das Slawentum zu überstrahlen und letztlich zu „heilen“. Um so schmerzhafter wurden die territorialen Verluste nach Versailles gerade im Osten wahrgenommen, die zudem in ihrer räumlichen Auswirkung (vor allem die westpreußischen Gebiete links der Weichsel, Danzigs und des Kulmer Landes) noch bemerkenswerte Analogien zu „1466“ zeitigten.

Bei den polnischen Chauvinisten der 1920er und 1930er Jahre befriedigten die territorialen Zugewinne 1919 noch lange nicht die Vision von der angestrebten „Wiedergewinnung der polnischen Westgebiete“, die man sich damals sogar bis Lipsk (Leipzig) und Lubeka (Lübeck) erträumte. Demzufolge war nun auch nicht mehr von „Abwehr“ die Rede war, sondern von „Angriff“, unter der im 1918 wiedererstandenen Polen weitverbreiteten Parole: „Weg mit den Preußen! Laßt uns Grunwald wiederholen!“

Unter veränderten politischen Vorzeichen der sozialistischen „Volksrepublik“ Polen kam „Grunwald“ eine neue Funktion zu. Marian Biskup, von bundesdeutschen Historikern als der „große alte Mann der polnischen Mediävistik“ hofiert, tatsächlich aber ein unbelehrbar-aggressiver Chauvinist vom Schlage Dmowskis, interpretierte 1960, durchaus programmatisch für die Posener und Krakauer „Westforschung“, den „Sieg von 1410“ als Unterpfand der gerechten Ansprüche auf vermeintlich „urpolnischen Boden“. Zur Legitimation der völkerrechtswidrigen Annexion Ostdeutschlands, zur Verteidigung der „polnischen Westgrenze“ an Oder und Neiße, mußte „Grunwald“ gerade im „demokratisch“ schon heftig destabilisierten „Volkspolen“ kurz vor dem Mauerfall herhalten.

Ein „Allpolnisches Grunwald-Komitee“ formierte sich 1987, das nicht nur die Feierlichkeiten am 15. Juli 1990 organisierte, sondern schwungvoll ins 21. Jahrhundert hinein plante, um die Kontinuität der politisch so prächtig ausbeutbaren „Erinnerung“ ins „dritte Jahrtausend“ hinein zu verlängern. Ausgerechnet die Bonner „Kreuzritter“ verdarben ihnen aber im Sommer 1990 das schöne Konzept. Die gemeinsame Erklärung von Bundestag und DDR-Volkskammer vom 21. Juni 1990 erkannte die polnischen Ansprüche auf die „ehemaligen“ deutschen Ostgebiete „vorbehaltlos“ an. Darum, so glaubt etwa Ekdahl, seien die Feierlichkeiten drei Wochen später schon „sehr gedämpft“ ausgefallen. Daß ihnen jemals ein Viertel Deutschlands „vorbehaltlos“ zum Geschenk gemacht werden würde, hatte die polnischen Bewirtschafter der Grunwald-Symbolik in ihren verwegensten Träumen nicht phantasiert. Es spricht daher einiges dafür, daß ein derart ausrangierter Mythos in der nächsten Woche, zum 600. Jahrestag, kein Publikumsmagnet für Geschichtspolitiker mehr sein wird.

Fotos: Ernst Rimmek (1890–1963), „Die Schlacht von Tannenberg 1410“: Nachhaltigste Eindrücke für das Kopfkino polnischer Nationalisten, Jungingen-Stein bei Tannenberg von 1901: Schmach von 1410

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