© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Warten auf Karlsruhe
Finanzkrise: Eine weitere Verfassungsbeschwerde gegen das Euro-Rettungspaket setzt das Bundesverfassungsgericht unter Druck
Gerhard Vierfuss

Der Druck auf das Bundesverfassungsgericht in den Verfahren um Finanzhilfen für überschuldete Euro-Länder wächst. Nachdem vor einer Woche ein ausführliches Gutachten des Centrums für Europäische Politik (CEP) Furore gemacht hatte, das dem Euro-Stabilisierungsprogramm den Bruch von EU-Recht und deutschem Verfassungsrecht attestiert (JF 28/10), legten wenige Tage später die Kläger Wilhelm Hankel, Wilhelm Nölling, Karl Albrecht Schachtschneider, Joachim Starbatty und Dieter Spethmann nach, indem sie ihre Verfassungsbeschwerde gegen die Griechenland-Hilfe  auf die Hilfsmaßnahmen der EU und Deutschlands für finanzschwache Euro-Länder erweiterten (siehe auch den Bericht im Internet unter www.jungefreiheit.de). Damit liegt nun nach der Klage des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler die zweite prominente Verfassungsbeschwerde gegen das 750-Milliarden-Hilfspaket vor.

Will man versuchen, die Erfolgsaussichten dieser Klagen vor dem Verfassungsgericht einzuschätzen, ist es hilfreich, zum Vergleich eine Entscheidung heranzuziehen, die das Gericht in ganz ähnlicher Sache vor zwölf Jahren traf: 1998 verwarf es die damaligen Verfassungsbeschwerden gegen die Einführung des Euro als „offensichtlich unbegründet“. Damals wie heute hatten die Kläger vor allem eine Verletzung der Artikel 14 und 38 des Grundgesetzes (GG) gerügt. Artikel 14 ist das Eigentumsgrundrecht; Artikel 38 betrifft die Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages.

Einfluß auf die Ausübung der Staatsgewalt 

In seiner Begründung führte das Gericht aus: Artikel 14 GG schütze zwar auch Bankguthaben und andere geldwerte Forderungen; jedoch sei „der Geldwert in besonderer Weise gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsabhängig“. Die grundrechtliche Garantie könne sich daher nur auf „die institutionelle Grundlage und die individuelle Zuordnung“ beziehen. Außerdem hätten Parlament und Regierung für ihre Stabilitätspolitik einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, der nicht gerichtlich überprüfbar sei. Somit ergebe sich aus Artikel 14 GG kein subjektives Recht, eine bestimmte Politik hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Währungsstabilität überprüfen zu lassen.

Aus Artikel 38 GG – so das Bundesverfassungsgericht weiter –  ergebe sich zwar für alle Wahlberechtigten die Garantie, durch die Wahl an der

Legitimation der Staatsgewalt mitwirken und auf ihre Ausübung Einfluß nehmen zu können. Daher wäre es mit Artikel 38 GG unvereinbar, diese Rechtsposition durch eine Verlagerung von Befugnissen des Bundestages auf Organe der EU so zu entleeren, daß das in Artikel 20 niedergelegte demokratische Prinzip verletzt würde. Im zu entscheidenden Fall freilich sei Artikel 38 überhaupt nicht berührt: Alle Kompetenzübertragungen auf die Ebene der EU seien verfassungsrechtlich abgesichert und durch Parlamentsbeschlüsse hinreichend demokratisch legitimiert.

Anders als vor zwölf Jahren können die jetzigen Kläger konkrete Vorschriften des EU-Rechts anführen, die sie als verletzt ansehen. In erster Linie handelt es sich dabei um den Artikel 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), das „Bailout-Verbot“. Diese Vorschrift schließt ausdrücklich nur eine Haftung der Union oder eines Mitgliedstaates für Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates sowie einen Eintritt für derartige Verbindlichkeiten aus; von Krediten ist nicht die Rede. Zumindest dem Wortlaut nach scheint also keine Verletzung durch die EU-Hilfspakete vorzuliegen. Sinn und Zweck des Artikels 125 ist es jedoch – wie auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung ausführte – , den einzelnen Euro-Staaten die uneingeschränkte Eigenverantwortung für ihre Haushalts- und Verschuldungssituation zuzuweisen; die Folgen einer unsoliden Haushaltsführung sollen sie nicht auf andere Euro-Staaten abwälzen können. Dieser Effekt wird aber durch die Gewährung von Krediten an überschuldete Staaten genauso erzielt wie durch die Haftungsübernahme für Kredite Dritter. Demnach ist von einer Verletzung des Artikels 125 AEUV auch durch die Gewährung von Krediten der EU aus dem sogenannten „60-Milliarden-Topf“ auszugehen (in Wahrheit liegt eine solche Begrenzung überhaupt nicht vor; JF 28/10). Für die Hilfeleistungen der einzelnen Euro-Länder bedarf es einer solchen Argumentation gar nicht: Denn diese sollen im Bedarfsfall keine Kredite auszahlen, sondern Garantien für die Kredite übernehmen, die von einer eigens hierfür gegründeten Zweckgesellschaft gewährt werden. Damit handelt es sich um einen eindeutigen Verstoß gegen den Wortlaut des Artikels 125.

Dieser Verstoß könnte jedoch durch Artikel 122 AEUV gerechtfertigt sein. Diese Vorschrift erlaubt finanziellen Beistand, wenn ein Mitgliedstaat aufgrund von „Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, (...) ernstlich bedroht“ ist. Die Bundesregierung hält – wie auch die EU – diesen Artikel für anwendbar, denn Ursache der Schwierigkeiten sei schließlich der „Angriff von Spekulanten“. Das CEP-Gutachten weist demgegenüber darauf hin, daß die Vorschrift im Kontext der Eigenverantwortlichkeit der Euro-Länder für ihre Haushaltsführung zu sehen sei und daß deswegen als „außergewöhnlich“ nur solche Ereignisse angesehen werden könnten, die – wie Naturkatastrophen –  in keinem Zusammenhang mit der Verschuldungslage eines Landes ständen.

Diese Interpretation ist zweifellos naheliegend und plausibel; aber es ist nur eine Interpretation. Da der Wortlaut des Artikels 122 AEUV nicht eindeutig ist, bietet sich dem Gericht hier die Möglichkeit, sich zurückzunehmen und der Exekutive einen Vorrang bei der Auslegung der Vorschrift zuzubilligen. Freilich ginge es damit über die Einräumung eines Prognose- und Einschätzungsspielraums weit hinaus: Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe – wie der des „außergewöhnlichen Ereignisses“ – ist nach allgemeiner Auffassung Sache der Gerichte, nicht der Regierung.

Beschluß ist nicht durch Kompetenzen gedeckt

Was hieße es nun, wenn Karlsruhe zu dem Ergebnis gelangte, die Hilfsmaßnahmen seien nicht durch Artikel 122 AEUV gedeckt und verstießen somit gegen EU-Recht? Damit wäre noch keineswegs über den Erfolg der Klagen entschieden; denn hierfür ist die Verletzung eines Grundrechts (oder grundrechtsgleichen Rechts) der Kläger Voraussetzung. Zur Untersuchung dieser Frage ist mit dem Gutachten des CEP zu unterscheiden zwischen den Hilfsmaßnahmen, die direkt von der EU geleistet werden sollen, und den Kreditgarantien, die Deutschland bereithält. Im Fall der direkten EU-Kredite liegt eine Verletzung von Artikel 38 GG vor. Denn der Beschluß des Rates der EU, notleidenden Euro-Ländern Kredite zu gewähren, ist nicht durch die Kompetenzen gedeckt, die Deutschland auf die EU übertragen hat. Damit ist das Recht der wahlberechtigten Deutschen verletzt, an der Legitimation der öffentlichen Gewalt auch auf EU-Ebene teilzuhaben und Einfluß auf sie auszuüben. Unter der Annahme einer Verletzung von Artikel 122 AEUV wäre dieses Ergebnis auch für das Bundesverfassungsgericht zwingend, denn es folgt aus der klaren Rechtsprechung dieses Gerichts zu Artikel 38 GG.

Anders ist die Sachlage im Fall der Kreditgarantien, die Deutschland übernommen hat. Das CEP-Gutachten interpretiert die Vereinbarung der Euro-Staaten, über eine Zweckgesellschaft Kredite zu vergeben, als intergouvernementale Vereinbarung. Es handelt sich also nicht um eine EU-Maßnahme; die Zusage der Garantien erfolgte vielmehr in deutscher Verantwortung. Sie wurde beschlossen vom deutschen Parlament, also der Vertretung des deutschen Volkes, legitimiert durch die Wahl gemäß Artikel 38 GG. Eine Verletzung dieser Vorschrift liegt nicht vor. Für Artikel 14 GG gilt weiterhin, was das Verfassungsgericht vor zwölf Jahren feststellte: Einen Anspruch auf eine bestimmte Währungspolitik gewährt dieses Grundrecht nicht.

Fazit: Das Bundesverfassungsgericht wird sich sehr eingehend mit der Argumentation der Kläger auseinanderzusetzen haben. Will es seiner Linie aus dem Maastricht- und dem Lissabon-Urteil treu bleiben, wird ihm kaum etwas anderes übrigbleiben, als den Verfassungsbeschwerden zumindest teilweise stattzugeben. Man darf gespannt sein, ob das Gericht den Mut dazu aufbringen wird: Denn die politischen Folgen werden beträchtlich sein.

Foto: Die Euro-Rettung wird zum Fall für die Verfassungsrichter in ihren roten Roben: Bleibt das Gericht seiner Linie treu?

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