© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Wächter des Vergangenen
Sechzig Jahre Zentralrat der Juden: Vom Kronzeugen der Normalität zur Empörungsmaschine
Andrzej Madela

Als Henryk Broder im Herbst 2009 erklärt, für die Präsidentschaft des Zentralrat der Juden kandidieren zu wollen, gleicht seine Ankündigung einem sprichwörtlichen Stich ins Wespennest. Nicht genug damit, daß sein wohlberechneter Coup die Medien tagelang in Atem hält. Bezeichnender gerät die Reaktion jener Organisation, die zu übernehmen er vorgibt. Sie führt auf eindrückliche Weise vor Augen, in welchem Maße der Zentralrat mittlerweile geistiger Teil der von ihm so oft angefehdeten Bundesrepublik geworden ist. Mit ihrer Bunkermentalität, einer leichtfertigen Neigung zur Diffamierung des imaginären Gegners und der marktschreierischen Fixierung auf Vergangenes steht die Dachorganisation der Juden in Deutschland als leicht anwerfbare, bedienungsfreundliche und relativ kostengünstige Empörungsmaschine da, deren bundesdeutsches Konstruktionsprinzip sechzig Jahre nach Patenteinführung allerdings einem wachsenden Druck der Konkurrenzmärkte ausgesetzt bleibt.

Dabei gerät freilich aus dem Blick, daß die Anfänge des Zentralrats ganz anders geartet liegen, ja mit dem unaufhörlich-aufdringlichen antifaschistischen Einsatz nichts zu tun haben. Am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main gegründet, vertritt er fünf Jahre nach dem Kriege ganze 15.000 Juden, davon einen Großteil aus Osteuropa. Das ist eine verschwindend winzige Menge gegenüber den knapp 600.000 assimilierten jüdischen Deutschen der Vorkriegszeit, von denen nur wenige die Vernichtung überleben.

Auch wegen ihrer personellen Schwäche verstehen sich die Neugründungen in Düsseldorf, München, Berlin und Frankfurt als „Liquidationsgemeinden“. Sie sind Schöpfungen auf Abruf, kaum einer der Überlebenden kann sich Anfang der fünfziger Jahre vorstellen, seinen Lebensmittelpunkt dauerhaft in Deutschland zu verorten. Für die latent auswanderungswillige Mehrheit kommt deshalb die Annahme der Funktion einer zentralen deutschen Mahninstanz nicht in Betracht. Weitaus wichtiger scheint ihr in den kriegsversehrten Städten das Lebenspraktische, die Organisation von Arbeit, Wohnraum und Schule. Erst zehn Jahre später kommen – im Zusammenhang der Verhandlungen zwischen Konrad Adenauer und David Ben Gurion – handfeste sozial- und entschädigungsrechtliche Anliegen hinzu.

Daß die jüdische Nachkriegsgemeinde dennoch mehrheitlich in Deutschland verbleibt, hat grundsätzlich mit zwei Dingen zu tun: einer großzügigen deutschen Wiedergutmachung, die das jüdische Leben individuell wie gemeinschaftlich wieder auf die Beine bringt, und einer über Jahrzehnte ungewissen Perspektive des Ziellandes Israel, das von seiner Gründung an die eigene Existenz in Kriegen behaupten und so zwangweise an Attraktivität für die individuelle Lebensplanung einbüßen muß.

Großen Anteil an der Neuverwurzelung jüdischen Lebens in Deutschland haben auch die Präsidenten des Zentralrates Heinz Galinski (1954–1963; 1988–1992) und Werner Nachmann (1969–1988). In ihrer Amtszeit verpassen sie den Kultusgemeinden eine erste Stabilisierung und drücken für sie mit Geduld, Geschick und Hartnäckigkeit die rechtlich abgesicherte Stellung einer Religionsgemeinschaft durch. Der bundesdeutsche Staat fördert diese seit Ende der sechziger Jahre großzügig – und spannt sie gleichzeitig unmerklich in seine außenpolitischen Strategiespiele ein.

Denn mit jeder neuen Synagoge, jedem eingeweihten jüdischen Kindergarten, jedem eingerichteten Altersheim kommt die noch junge Bundesrepublik dem selbsterklärten Ziel einer „Normalität“ näher, als deren Kronzeugen sie im „Land der Täter“ ebenjene jüdische Winzling-Organisation anführt, deren Stärke Ende der achtziger Jahre bei gerade einmal 28.000 Mitgliedern liegt. Die Absicht ist durchschaubar: je schneller der Zentralrat die soziale und kulturelle Integration des Judentums in Deutschland bescheinigt, desto größer fallen die Chancen der Bundesrepublik aus, international den Stallgeruch eines Post-Nazi-Landes loszuwerden. In der Hierarchie außenpolitischer Wirkung seit der Ära Brandt rangiert daher der Zentralrat weit vor der Deutschen Bischofskonferenz, dem Bund Deutscher Industrieller oder dem Deutschen Gewerkschaftsbund.

Dem auf Imagewirkung bedachten Staatsanliegen kommt der Zentralrat gerne entgegen, obschon er gleichzeitig nach innen eine Atmosphäre betonter Staatsferne pflegt. Im Gegensatz zum liberalen Geist der Bundesrepublik gibt sich der Zentralrat in Religionsdingen gerne orthodox: er hebt Gottesdienste in deutsch auf, führt statt dessen welche in hebräisch ein, setzt die Trennung von Männern und Frauen in der Synagoge durch, schafft das (christliche) Orgelspiel ab und mißtraut der „vorschnellen“ Assimilation der Vorfahren als einem der Gründe jüdischen Untergangs.

Ihre Idealverkörperung erlebt diese zentralrätliche Lebenslüge in den achtziger Jahren. Die jüdische Dachorganisation, mittlerweile vollends an den Tropf des bundesdeutschen Innenministeriums angeschlossen, behält den Rang einer obersten deutschen Moralinstitution, gibt sich nach außen frei und ungebunden. Doch während sie dem deutschen Politikkreislauf einen inflationären Ausstoß von wöchentlichen Warnmeldungen verabreicht, läßt sie sich endgültig auf die Rolle eines Vergangenheitswächters festlegen. In der Bundesrepublik jener Zeit entsteht so eine Projektionsfläche für deutsche Selbstfindung.

Die ersten Anzeichen von Stagnation in den Gemeinden überspielt der Zentralrat mit alarmistischen Aktivismus und schlittert – völlig unvorbereitet – in die Wiedervereinigung hinein. Mit dem Abschluß der Zwei-plus-Vier-Gespräche gewinnt Deutschland seine volle Souveränität wieder. Als nun anerkannte internationale Größe, die in Europa gar die erste Geige spielt, braucht das Land seinen einstigen „Kronzeugen der Normalität“ fürs diplomatische Parkett nicht mehr. Will die Dachorganisation ihren alten Rang halbwegs behaupten, müssen ihre Töne also notwendigerweise lauter, vernehmlicher, schriller ausfallen.

Unter Ignaz Bubis erleidet sie einen eklatanten Bedeutungsverlust nicht nur durch das Ende des Kalten Krieges, sie bekommt Konkurrenz aus den eigenen Reihen. Aus den USA dringt in den Neunzigern das finanzstarke American Jewish Committee nach Europa, das schon bald Büros in Berlin, Warschau, Brüssel, Genf und Jerusalem unterhält. Die egalitär ausgerichteten Einwanderer aus Rußland finden sich in den orthodox eingerichteten Gemeinden nicht zurecht und gründen bald eine Union progressiver Juden, die seit 2004 dem Zentralrat per Gerichtsbeschluß gleichgestellt ist und der er entsprechende Anteile an den Fleischtöpfen des Innenministeriums überlassen muß. Zudem gibt es noch ein DDR-Eigengewächs, die Gemeinde Adass Jisroel, die – ebenfalls nach einem Rechtsstreit gegen den Zentralrat – ihre Räume in Sichtweite des Zentralratshauses bezieht. Eine mittlerweile etablierte Schicht von Gemeinde- und Verbandsfunktionären verhindert aus Angst um Posten, Geld und Einfluß mögliche Zusammenschlüsse, so daß der Zentralrat auch seinen Alleinvertretungsanspruch einbüßt.

Doch ausgerechnet mitten in der Sinn- und Existenzkrise erwächst ihm auch eine Rettungschance, die ihm auf lange Jahrzehnte das Überleben sichern dürfte. Mit dem in der europäischen Nachkriegsgeschichte beispiellosen Transfer von 200.000 russischen Juden nach Deutschland erhält der hoffnungslos überalterte, stagnierende Zentralrat Anfang der neunziger Jahre mit einem Schlag eine Basis, die den vorhandenen Mitgliederstand um ein Siebenfaches überbietet. Auch wenn davon bis zum Jahre 2010 nur etwa 110.000 den Weg in die Gemeinden finden, ist die Chance auf eine inhaltliche und personelle Umkehr einmalig.

Diese Chance liegt vor allem in einem sozialen und religiösen Neuanfang der Gemeinden. Deren Neumitglieder sind vielfach noch auf der Suche nach angemessenen Arbeits- und Lebensbedingungen, kulturell und sprachlich oft nur oberflächlich integriert. Ihre Mehrheit gehört dem säkularen Judentum an, ihre Bindung an die Religion der Vorfahren ist über die Generationen verschwunden. Die Gemeinden müssen folglich ihre neuen Mitglieder integrieren, ihnen bei der Suche nach Arbeit und Wohnraum helfen, die Grundlagen des religiösen Lebens vielfach neu errichten. Das erfordert eine Abkehr ihrer neurotischen Festlegung auf das Dritte Reich, vom billigen Alarmismus, Konzentration auf innergemeindliche Aufgaben, soziale Kompetenz, Fremdsprachen- und Marktkenntnis – Eigenschaften mithin, die den verschütt gegangenen des Neuanfangs in den fünfziger Jahren nicht ganz unähnlich sind.

Die größte Chance liegt jedoch in einer personellen Neuausrichtung des Zentralrats. Von seinen bisherigen sieben Präsidenten sind ausnahmslos alle Holocaust-Überlebende. Das sorgt unweigerlich für ihre biographische und thematische Rückwärtsgewandtheit. Bei dieser personellen Konstellation bleibt ein Wegfall der Holocaust-Präsenz paradoxerweise dem Bedeutungsschwund des Zentralrats gleich. Diese verhängnisvolle Rückkopplung wird nur durch eine Neuwahl nichtig, in der die Generation der Nachkriegsgeborenen die schwache Präsidentin und ihre zur Selbstdarstellung und Effekthascherei neigende Entourage ablöst, einen ähnlichen Erfolg in den Gemeinden und Landesverbänden konsequent herbeiführt und den Zentralrat endlich von einer Rolle freistellt, die ihn nachweislich überfordert.

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