© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Finale Grenzziehungen
Eine Debatte über den Hirntod als Voraussetzung für die Transplantationsmedizin zwischen Ethik und Zweckmäßigkeit
Hans-Bernhard Wuermeling

Seitdem das Ad-Hoc Committee der Bostoner Harvard Medical School 1968 den Hirntod als den Tod des Menschen definierte, ist diese Definition umstritten. Ihr erster Zweck war es, den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung bei irreversiblem Koma zu rechtfertigen, also bei Patienten, die ohne Bewußtsein, ohne eigene Atmung und ohne jede Aussicht auf Besserung oder gar Genesung dahinvegetierten. Solche Patienten füllten nämlich zunehmend die Intensivstationen, in denen es zwar immer öfter gelang, lebensbedrohliche Zustände mit dem Einsatz künstlicher Beatmung zu überbrücken. Aber es war ein Preis dafür zu zahlen: Wenn die Überbrückungsfunktion der künstlichen Beatmung versagte, weil der Krankheitsprozeß bereits unumkehrbar geworden war, nahmen Patienten, die weder leben noch sterben konnten, den Heilbaren die Plätze weg. 

Damals scheute sich das Harvard Committee, Kriterien für die Rechtfertigung eines Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen zu benennen, weil es fürchtete, damit gegen das Tötungsverbot zu verstoßen. Daß ein solcher Abbruch dann als gerechtfertigt, ja geradezu als geboten anzusehen ist, wenn lebenserhaltende Maßnahmen unsinnig werden, weil sie nicht mehr verhältnismäßig, sondern maßlos sind, ist eine Erkenntnis, die schwer zu vermitteln ist. Das haben die Auseinandersetzungen der letzten Jahre um die Fälle Terry Schiavo, Eluana Englaro und andere deutlich gezeigt.

Die Hirntodtheorie beruhte auf reiner Zweckmäßigkeit

Nur in einem einzigen dürren Satz erwähnte das Harvard Committee damals, daß „obsolete“ Kriterien für die Definition des Todes zu Auseinandersetzungen bei der Beschaffung von Organen für die Transplantation führen könnten. Solche Auseinandersetzungen wollte das Harvard Committee aber unter allen Umständen vermeiden, primär wegen des Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen. Damit Ärzte wegen eines solchen Abbruchs nicht in juristische Schwierigkeiten gerieten, definierte das Committee einfach das irreversible Koma, gekennzeichnet durch den Hirntod, als den Tod des Menschen. Ein Behandlungsabbruch bei einem Toten konnte keine juristischen Folgen haben.

Diese Begründung der These, der Hirntod sei der Tod des Menschen, war unwissenschaftlich und lediglich zweckgerichtet. Dennoch wurde sie weltweit akzeptiert, um Organtransplantationen möglich zu machen.

Eine anthropologische Begründung für die Hirntodthese wurde in Deutschland erst viel später durch die Bundesärztekammer und unter wesentlicher Mitwirkung des Düsseldorfer Philosophen Dieter Birnbacher nachgeliefert. Bei einem Hirntoten sei die integrierende Funktion des Gehirns ausgefallen; deswegen könne man ihn nicht mehr als Organismus bezeichnen, und ein Organismus sei notwendig für die Annahme eines lebenden Menschen. Diese Begründung war mit maßgeblich dafür, daß der Deutsche Bundestag mit seinem Transplantationsgesetz (1998) die Feststellung des Todes „nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft“ und damit den Hirntod als Voraussetzung für straflose Organentnahme anerkannte.

Mittlerweile ist aber die Kritik an der These, daß der Hirntod der Tod des Menschen sei, keineswegs verstummt, sondern vielmehr wirksamer geworden. Auch die Zweifel an der sicheren Feststellung des Hirntods sind gewachsen. Sabine Müller von der Berliner Charité hat in einem Aufsatz über das Revival der Hirndebatte alarmierend darauf hingewiesen (Ethik in der Medizin, März 2010). Der Alarm wurde kaum wahrgenommen. Sie weist darauf hin, daß Dieter Birnbacher 2007 zu dem Schluß gekommen ist, daß „bei der Explantation von Organen von Hirntoten (...) einem lebenden Organismus Organe entnommen (werden)“, und folgert, die Entnahme geschehe an einem „lebenden menschlichen Individuum“.

Das 2008 veröffentlichte Weißbuch des Bioethikrats des US-amerikanischen Präsidenten bezweifelt wie Alan Shewman (Los Angeles), der heftigste Kritiker der Hirntodthese, daß das Gehirn die Integration der Lebensvorgänge eines (höheren) Organismus bewirke. Diese sei vielmehr als Funktion des gesamten Organismus anzusehen. Gleichwohl wird am Hirntod-Kriterium festgehalten. Dieses wird aber mit einer neuen philosophischen Begründung versehen, die auch der Transplantationsmedizin Genüge tun soll. Damit erweist sich diese – der Zweck heiligt die Mittel – als ideologisch und unwissenschaftlich.

In beiden neuen Kritiken, der von Birnbacher und der des amerikanischen Bioethikrats, wird aus der Entwertung des Hirntodkriteriums gefolgert, daß die Organentnahme, wenn sie nicht ungesetzlich oder unethisch werden soll, einer anderen Rechtfertigung bedarf. Birnbacher fordert, die „Tote-Spender-Regel“ (dead-donor rule) aufzugeben, das heißt die Regel, daß Organentnahmen nur bei Toten erfolgen dürfen. Er empfiehlt allerdings, aus praktischen Gründen dennoch am Hirntodkriterium festzuhalten. Ethisch sei es vertretbar, die mentalen Funktionen als wertvoller zu betrachten als die bloß biologischen.

Der amerikanische Bioethikrat geht davon aus, daß das Hirntodkonzept inzwischen durch Erfahrung widerlegt sei, versucht aber, es mit neuer Begründung aufzuwerten, um die Tote-Spender-Regel nicht zu verletzen. Fazit: Im Falle Birnbacher soll diese Regel, also das Tötungsverbot, offen außer Kraft gesetzt und im Falle des amerikanischen Bioethikrats auf verborgene Weise umgangen werden. Es geht jetzt offensichtlich nicht mehr darum, die These, mit dem Hirntod sei der Mensch tot, zu beweisen oder zu widerlegen. Vielmehr geht es darum, sie für irrelevant zu halten, weil das Ziel, die Transplantationsmedizin zu rechtfertigen, auf andere Weise leichter erreichbar scheint, nämlich durch den offenen oder heimlichen Angriff auf das Tötungsverbot. Das wird zu erheblichen Konsequenzen für dessen allgemeine Anerkennung und ausnahmslose Geltung führen. Davor muß deswegen in aller Deutlichkeit gewarnt werden.

Rechtfertigung der          Transplantationsmedizin

Um der Transplantationsmedizin trotz der Aufgabe des bisherigen Hirntodkonzepts nicht zu schaden, versuchen die beiden Kritiken trickreich daran festzuhalten. Der Akzeptanz der Transplantationsmedizin wird damit ein schlechter Dienst erwiesen. Insbesondere wird der böse Verdacht erhärtet, die Definition des Hirntods als menschlichen Todes erfolge nur, um Organentnahmen zu ermöglichen. Unter den Hirntodgegnern gibt es leider durchaus idealistisch Gesinnte, die ihre Organe bereits als Sterbende, also noch lebend, ihren Mitmenschen zur Verfügung stellen wollen, auch wenn dies ihre Tötung bedeuten wird. Die Grenzen zur Euthanasie werden dadurch fließend. Deshalb ist auch vor solchem Idealismus zu warnen.

Was ist angesichts dieser Entwicklungen sofort zu tun? Erstens: An die Zustimmung zur Organentnahme, für die eine Hirntodfeststellung erforderlich ist (das gilt zum Beispiel nicht für Transplantation der Augenhornhaut), müssen erhöhte Anforderungen gestellt werden. Angesichts der Zweifel an der Hirntodthese bedarf es nun einer ausdrücklichen und höchstpersönlichen Zustimmung der Organspender. Von einer Sozialpflichtigkeit der Leiche kann nicht mehr ausgegangen werden. Diese liegt gedanklich der Widerspruchslösung in verschiedenen Ländern zugrunde, wonach man einer Organentnahme durch Erklärung zu Lebzeiten widersprechen muß, um ihr zu entgehen. Kein Staat darf Organentnahmen von Menschen rechtfertigen, die nicht ausdrücklich zugestimmt haben. Eine solche Zustimmung kann auch nicht mehr – wie im deutschen Transplantationsgesetz – als vertretbar durch Angehörige, Bevollmächtigte oder Betreuer) angesehen werden.

Zweitens: Die Anforderungen an die Feststellung des Hirntods müssen erhöht, unter anderem bildgebende Verfahren zur Feststellung der Hirndurchblutung obligatorisch werden.

Was ist angesichts der geschilderten Entwicklung über solche Sofortmaßnahmen hinaus zu tun? Die Alternative: Einschränkung des Tötungsverbots oder eingreifende Maßnahmen gegen die Transplantationsmedizin, muß erkannt und gegebenfalls klug überwunden werden. Dazu sind nach ethischem Vordenken in den entsprechenden Gremien (Bundesärztekammer, Deutscher Ethikrat) die notwendigen politischen Entscheidungen zu fällen. Immer muß dabei das Tötungsverbot als die wichtigste Grundregel für jedes friedliche Zusammenleben der Menschen Priorität behalten.

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