© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

„Deutsche wie du und ich“
Sie rettete sie vor dem Vergessen: Gertrud Dempwolf wurde zur „Mutter der Wolfskinder“
Moritz Schwarz

Frau Dempwolf, was ist das Besondere am Schicksal der Wolfskinder?

Dempwolf: Eine gute Frage, denn es gab ja Millionen Deutsche, die am Ende des Zweiten Weltkrieges ein schlimmes Schicksal erleiden mußten: Flüchtlinge, Vertriebene, jene die in Lager verschleppt oder bei Pogromen ermordet wurden, Deportierte und Zwangsarbeiter – zahllose herzzerreißende Tragödien. Unter all den Millionen machen die Wolfskinder natürlich nur einen verschwindend geringen Anteil aus, und dennoch rührt uns ihre Geschichte in besonderer Weise, ganz einfach weil es Kinder waren.

Sie sind nach der Wende in der Sowjetunion 1991 sozusagen zur Mutter der Wolfskinder geworden, dabei kannten Sie, wie Sie betonen, bis dahin deren Schicksal gar nicht.

Dempwolf: Das stimmt. 1990 erhoben sich im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion bekanntlich die Litauer gegen Moskau. Wie Sie wissen, war es eine Art friedliche Revolution, aber die Sowjets schickten Anfang 1991 Panzer. Tagelang war unklar, ob es nicht zu einem ebenso tragischen Ende kommen würde, wie 1989 in China auf dem Platz des himmlischen Friedens. Immerhin 14 Menschen starben, als die Soldaten die Hauptstadt Wilna besetzten. Ich sah damals, wie alle Welt, die dramatischen Bilder im Fernsehen – und wen erblicke ich da, eingereiht mitten unter den mutigen Litauern? Meinen CDU-Fraktionskollegen Wolfgang von Stetten, wie ich damals Abgeordneter des Deutschen Bundestags. Er war aus Solidarität mit dem litauischen Befreiungskampf auf eigene Faust nach Wilna geflogen, übrigens war er nur über Umwege ins Land gelangt. Als er wieder in Deutschland war, habe ich ihn im Bundestag natürlich darauf angesprochen. Nun, und bei der Gelegenheit sagte er zu mir: „Du bist doch die Aussiedlerbeauftrage der Fraktion – weißt Du eigentlich, daß in Litauen Hunderte von Deutschen aus Königsberg und Umgebung leben, die ihren deutschen Namen nicht mehr haben und die sich Wolfskinder nennen?“ – Wußte ich nicht, fühlte mich aber in der Pflicht.

Das heißt?

Dempwolf: Zunächst habe ich gesammelt, etwa bei der Firma Bahlsen einen Container Kekse organisiert, oder bei Sprengel Schokolade, außerdem kamen 10.000 Mark an Spenden zusammen, und zu Weihnachten sind von Stetten und ich dann nach Litauen gefahren, um den Deutschen dort das Weihnachtslicht zu bringen. Wir trafen die Wolfskinder in einer Kirche in Kaunas, und als wir ankamen, standen sie alle auf und sangen das Deutschlandlied – da war es um mich geschehen.

Die Wolfskinder ließen Sie nicht mehr los?

Dempwolf: So ist es, es wurde den ganzen Abend erzählt und viel geweint. So viel umarmt und gedrückt worden bin ich in meinem Leben noch nicht – aber so sind die Wolfskinder. Sie müssen bedenken, sie haben 45 Jahre isoliert von uns übrigen Deutschen leben müssen. Lange durfte sogar niemand wissen, daß sie Deutsche waren, sonst wären sie abgeholt worden und hätten vielleicht nicht überlebt. Viele haben ihre Namen vergessen, manche die Sprache verlernt, einige dachten als Kind, Deutschland gäbe es gar nicht mehr: Sie hatten Königsberg in völliger Zerstörung gesehen und waren vor dem Inferno nach Litauen geflüchtet – kein Wunder, daß sie glaubten, da wäre nichts mehr. Jahrzehnte später, nach dem Stalinismus, waren sie dann für viele immer nur „die Faschisten“, wenn ruchbar wurde, daß sie Deutsche waren. Als endlich 1986 Michail Gorbatschow seine Glasnost-Politik machte, konnten sie sich erstmals ihrem eigenen Schicksal stellen. Eine Frau, die als kleines Mädchen ihre Mutter sterbend in Königsberg hatte zurücklassen müssen, erzählte mir, sie haben dann herausgefunden, daß ihr Vater noch lebe und zwar bei Köln. Sie wollte den alten Mann unbedingt kennenlernen, doch sie bekam kein Ausreisevisum von den sowjetischen Behörden.

Erst durch Sie hat die deutsche Politik also Notiz von den Wolfskindern genommen?

Dempwolf: So in etwa, denn von Stetten und ich haben dann die Trommel gerührt, haben mit Alfred Dregger, Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Horst Waffenschmidt, damals Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung, gesprochen, damit auch die Wolfskinder in die Hilfe einbezogen würden. Und wir haben über einen Förderverein, den Deutsch-Baltischen Parlamentarischen Freundeskreis, Spenden gesammelt.

Und versucht, Angehörige zu finden.

Dempwolf: Ja, das war vielleicht das Bewegendste: Wir kamen schließlich nach Litauen mit all den alten Fotografien, die mir Familien mitgegeben hatten, die hofften, unter den Wolfskindern vielleicht noch ihre verlorenen Kinder wiederzufinden. Wir haben in der damals notdürftig eingerichteten deutschen Botschaft mit Beamtinnen des Auswärtigen Amtes, denen ich heute noch dankbar bin, versucht die Identität und Lebensläufe zusammenzubringen. Wir saßen da und haben die Wolfskinder, die nun einzeln durch die Türe traten, mit unseren Fotos verglichen. Einige konnten wir so tatsächlich identifizieren. Das war hochgradig emotional: Man hält ein Bild in seiner Hand, blickt zu der Person gegenüber und ändert plötzlich das Schicksal dieses Menschen. Das ist natürlich überwältigend. Das ganze Thema läßt mich bis heute nicht los: Einmal Wolfskinder, immer Wolfskinder.

Wie viele sind nach der Wende nach Deutschland heimgekehrt?

Dempwolf: Das kann ich Ihnen gar nicht sagen und auch nicht, wie viele heute noch leben. Manche sind in Litauen geblieben, andere sind nach Deutschland gekommen, aber alle, egal wie sie sich nach 1991 entschieden haben, haben zwei Seelen in ihrer Brust. Zwar sind sie froh, daß sie endlich in Deutschland sind und wollen, wie sie sagen, auch „in deutscher Erde begraben werden“, aber ich glaube, sie können auch hier nicht ganz glücklich sein. Ihr Schicksal läßt sie einfach nicht los.

Wie stark ist denn ihre deutsche Identität?

Dempwolf: Sehr stark, sie sind alle unbedingt stolz, Deutsche zu sein. Aber sie haben eben auch ein Leben lang in Litauen gelebt, haben oft gezwungenermaßen litauische Namen angenommen, haben dort geheiratet, Kinder bekommen. Und man muß bedenken, die Wolfskinder haben immer auch Angst, auch heute noch. Das ist bei denen drin. Die Jahre in Angst, die diese Menschen in ihrer Kindheit zubringen mußten, bleiben für immer. Das macht ihr besonderes Gefühl aus und vielleicht heißt deshalb die Antwort auf die Frage nach ihrer Identität: Sie sind eben Wolfskinder – bis heute.

Sie sind 1994 Parlamentarische Staatssekretärin geworden. Wer hat sich von da an weiter um die Wolfskinder gekümmert?

Dempwolf: Nun, eigentlich war das Thema dann abgeschlossen. Heute haben die meisten Wolfskinder ihre Geschichte aufgearbeitet, sie haben die Freiheit nach Deutschland zurückzukehren bzw. zwischen Deutschland und Litauen zu pendeln, und sie haben, wenn sie in Litauen geblieben sind, das Recht, sich zu ihren deutschen Wurzeln zu bekennen. Als ich als Aussiedlerbeauftragte der Fraktion ausschied, hatten wir, hatte die Politik, ihre Arbeit im wesentlichen getan.

2005 stellte die Bundesregierung alle Hilfen für die in Litauen verbliebenen Wolfskinder ein. War diese Entscheidung nicht falsch?

Dempwolf: Nun, die meisten Wolfskinder können heute im Alter nicht so leben, wie die meisten anderen Deutschen, die im Reichtum und Wohlstand der Bundesrepublik gelebt haben, das ist klar. Aber die in Litauen verbliebenen erhalten die Rente, die sie in Litauen erworben haben. Was es allerdings nie gegeben hat, ist eine Entschädigung. Aber dann hätte man auch alle Aussiedler entschädigen müssen, und angesichts der vielen Millionen Opfer des Krieges hätten wir uns vor Entschädungsleistungen bald gar nicht mehr retten können. Meine Familie zum Beispiel wurde ausgebombt. Krieg ist Krieg, so schrecklich das ist. Persönlich hätte ich für die Wolfskinder gerne noch viel mehr getan, aber als Politiker muß man auch immer das große Ganze im Auge behalten.

Ist das Schicksal der Wolfskinder denn bei uns genug gewürdigt worden?

Dempwolf: Das Problem ist, daß als dank Gorbatschows Politik nach Jahrzehnten endlich die Möglichkeit bestand, diese Schicksale wirklich wahrzunehmen und aufzuarbeiten, auch schon die Wende kam und alles von der Befreiung der osteuropäischen Völker und bei uns von der Wiedervereinigung überstrahlt wurde. So daß dieses Kapitel in der öffentlichen Wahrnehmung erneut ins Hintertreffen geriet. 

Inzwischen hat sich die Aussiedlerpolitik der Bundesrepublik erheblich gewandelt. Gibt es auch heute noch eine nationale Verantwortung Deutschlands für die Wolfskinder?

Dempwolf: Die Bundesregierung hat sich doch immer für alle Deutschen in Osteuropa verantwortlich gezeigt. Das Problem sehe ich, wie gesagt, eher darin, daß in unserer Öffentlichkeit zumindest zu Beginn nicht genug Bewußtsein dafür vorhanden war. Wie die Aussiedler mußten auch die Wolfskinder, die nach Deutschland kamen, leider nur zu oft die Erfahrung machen, hier „die Russen“ zu sein. Und das, nachdem sie dort immer „die Deutschen“ oder „die Faschisten“ waren. Und das Interesse bei uns war nie wirklich groß. Wenn ich etwa als Aussiedlerbeauftrage der Fraktion bei CDU-Bürgerveranstaltungen gesprochen habe, wurden von den Bürgern pflichtgemäß ein paar Fragen dazu gestellt – und dann interessierte doch wieder mehr die übliche Alltagspolitik: Was ist mit den Renten, den Steuern, etc.? Aber ich will das nicht kritisieren, das ist normal. Ich will nur schildern, wie es gewesen ist. Und wie mühsam es immer wieder war, hier bei uns Verständnis dafür zu wecken, daß wir mit diesen Deutschen eigentlich ein gemeinsames Schicksal haben, da ihres wie unseres, auch wenn sie ganz unterschiedlich verlaufen sind, doch beide in der gleichen Geschichte, in der gemeinsamen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs wurzeln. Ja, sie mußten vielleicht sogar den höheren Preis bezahlen und sind, obwohl fern der Heimat, auf diese Weise vielleicht sogar mehr mit Deutschland verbunden als wir. Auch wenn es uns vielleicht nicht so erscheinen mag, so sind sie eben doch Deutsche wie du und ich.

 

Gertrud Dempwolf: die spätere  Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium war von 1989 bis 1994 Aussiedlerbeauftrage der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Zusammen mit ihrem Fraktionskollegen Wolfgang von Stetten machte sie 1991 die deutsche Politik auf das Schicksal der sogenannten Wolfskinder aufmerksam und engagierte sich im Deutsch-Baltischen Parlamentarischen Freundeskreis zu deren Unterstützung. Das ehemalige Mitglied im Landesvorstand der CDU Niedersachsen wurde 1936 in Mönchengladbach geboren.

Deutsch-Baltischer Parlamentarischer Freundeskreis: Der gemeinnützige Verein wurde 1991 von dem konservativen CDU-Bundestagsabgeordneten Wolfgang von Stetten gegründet und widmet sich der Unterstützung der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft im Baltikum, etwa ehemaliger jüdischer Ghettohäftlinge, den Hinterbliebenen der Opfer des sowjetischen Einmarsches von 1991 in Litauen oder den deutschen Wolfskindern. Deren Sprecherin Luise Quietsch (siehe Seite 10) urteilt: „Ohne den Freundeskreis könnten manche der in Litauen gebliebenen deutschen Wolfskinder heute nicht überleben.“

Kontakt und Informationen: Deutsch-Baltischer Parlamentarischer Freundeskreis e.V., Schloß Stetten, 74653 Künzelsau, Telefon: 0 79 40 / 12 60, Fax: 0 79 40 / 5 53 89.

Foto: Wolfskinder – verwaist oder von ihren Familien getrennt, überlebten Tausende deutscher Kinder nach 1945 wie einsame Wölfe in den Wäldern Litauens: „Manche dachten, Deutschland gäbe es nicht mehr“

 

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