© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

„Was wir einmal hatten, liegt in weiter Ferne“
Unter „Wolfskindern“ in Litauen: Wie Gisela Feyer als Siebenjährige 1945 aus Ostpreußen fl oh und ohne Eltern in Litauen überlebte
Hinrich Rohbohm

Ein alter Fahrstuhl führt in den sechsten Stock des Hauses an der Seimyniskiu, unweit des Zentrums von Wilna. Unter einem protestierenden Ächzen gibt die Tür des Aufzuges nach. Ein lautes, bedrohlich klingendes Ruckeln setzt ein, als sich das Gefährt in Bewegung setzt. In der sechsten Etage angekommen, versperrt eine Gittertür den Weg zu den Apartments. „Wie im Gefängnis“, scherzt Luise Quietsch. Die 70 Jahre alte Frau öffnet die Vergitterung, bittet in ihre Wohnung. Sie hat Besuch. Gisela Feyer (72) ist bei ihr. Beide kennen sich seit Beginn der neunziger Jahre. Sie hatten sich über den Verein „Edelweiß“ ( www.wolfskinder-geschichtsverein.de ) kennengelernt, dessen Vorsitzende Luise Quietsch ist.

Der Verein sagt nur wenigen etwas. Doch die Geschichten seiner Mitglieder dürften viele bewegen. Es sind die Geschichten der Wolfskinder in Litauen. Kinder, die in jungen Jahren während der Wirren des Kriegsendes von 1945 in Ostpreußen ihre Angehörigen verloren hatten. Die in Wäldern und Siedlungen umherzogen, immer auf der Suche nach Eßbarem, um nicht den Hungertod zu erleiden. Ohne Unterkunft, von der Hand in den Mund lebend.

Die ostpreußische Mundart ist ihr nicht verlorengegangen

Luise Quietsch und Gisela Feyer sind zwei dieser Wolfskinder. Jahrzehntelang hatten sie nicht über ihr Schicksal reden können. Für den Sowjetkommunismus waren sie Deutsche. Faschisten. Ihre Muttersprache hatten sie nicht mehr sprechen können. Deutsch war die Sprache der Faschisten. Lange sollte sie das bleiben. Erst als Litauen sich 1991 vom Kommunismus befreite und seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangte, konnten sie über das reden, was ihnen nach Kriegsende widerfahren war.

Als Gisela Feyer mit der JUNGEN FREIHEIT ins Gespräch kommt, ist sie begeistert. Jemand, der deutsch spricht. Der Klang ihrer Muttersprache, der ihr so vertraut vorkommt und doch fremd geworden ist. Heute spricht sie litauisch. Sie hatte es als Kind gelernt. „Ganz schnell ging das“, sagt sie zu Luise Quietsch, die ihre Worte ins Deutsche übersetzt. Ihr selbst ist die deutsche Sprache abhanden gekommen. Heute heißt sie nicht mehr Gisela Feyer, sondern Elzbieta Vasiliauskiene.

Sie ist am 3. Februar 1938 in Königsberg geboren. Sie kannte das genaue Datum nicht, beschreibt sie eine Kuriosität. Als man sie danach fragte, hatte sie geraten. Und genau ins Schwarze getroffen. Luise Quietsch verläßt für einen Moment das Wohnzimmer. Kaffee kochen. Gisela Feyer ist jetzt allein. Allein mit einem Reporter aus einer Nation, der sie eigentlich angehören müßte, deren Behörden das aber anders sehen.

Weil die meisten Wolfskinder nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Unabhängigkeit Litauens im Jahr 1991 auch ihre Staatsbürgerschaft von der sowjetischen in die litauische ändern ließen, hatten die Wolfskinder nach deutschem Recht ihre noch vorhandene deutsche Staatsbürgerschaft verloren. Zudem gab es Probleme mit dem Bundesverwaltungsamt, weil Dokumente für den Nachweis einer deutschen Identität fehlten. Mittlerweile haben die Wolfskinder jedoch die Möglichkeit, eine Wiedereinbürgerung zu beantragen.

Letztlich bahnt sich die Wahrheit doch ihren Weg. Hier, in diesem Wohnzimmer. 65 Jahre nachdem Gisela Feyers Brücken in die Heimat brachen. Auch die deutschen Worte kommen gebrochen, aber sie sind deutlich zu verstehen. Sogar die ostpreußische Mundart klingt durch. Bruchstücke aus einem früheren, einem anderen Leben.

Zu Beginn der vierziger Jahre ist Gisela Feyer ein kleines Kind. Erste Erinnerungen. An die Mutter, Hedwig Feyer. Eine „moderne, modebewußte Frau“, wie sie noch weiß. Der Vater, Wilhelm Feyer. Ein gelernter Stukkateur, als Unteroffzier an der Ostfront kämpfend. Der Mann in Uniform. Der, vor dem sie Angst hatte, weil er ihr aufgrund langer kriegsbedingter Abwesenheit fremd geworden war.

Die Familie lebt in Königsberg, Weidendamm Nummer 37. Das schwarze Radio. Die zwei breiten Betten mit ihren großen Decken. Gisela Feyer hat sie noch heute vor Augen. Sie hat ein altes Schwarzweißfoto. Eine Aufnahme aus glücklichen Tagen. Vater Willy mit Mutter Hedwig, Gisela und Zwillingsschwester Doris. Doch das Familienglück zerbricht am 20. Juli 1942. Der Tag, an dem der damals 31 Jahre alte Willy Feyer an der Ostfront fällt. Zwei Jahre später folgt der nächste Schicksalsschlag. Die Wohnung der Feyers geht in Flammen auf, wird bei einem alliierten Luftangriff von Phosphorbomben getroffen.

Als im Winter 1944/45 sowjetische Soldaten vor Ostpreußen stehen, will die Mutter mit ihren beiden Zwillingstöchtern fliehen. Über die Ostsee in den Westen. Das geplante Fluchtschiff wird tragische Geschichte schreiben: Es ist der Prachtdampfer der KdF-Organisation, die „Wilhelm Gustloff.“ Die Mutter verspätet sich. Sie verpaßt das mit über 10.000 Passagieren überfüllte Schiff, das am Abend des 30. Januar von dem Sowjet-U-Boot S-13 versenkt wird.

Ein zweiter Fluchtversuch ist erfolgreich. Wieder soll es per Schiff über die Ostsee gehen, nach Wismar. Gisela Feyer hat für die Überfahrt Nahrung zugeteilt bekommen. „Eigentlich hatte ich alles aufessen sollen“, erzählt sie. Aber sie kann nicht. Seekrankheit. Sie versteckt ihre Ration. In Wismar erinnert sie sich an einen großen Raum, in dem sie unterkommen. Matratzen liegen auf dem Boden, auf denen sie geschlafen hatten. Das war im April 1945. Dann wird es dunkel in ihrem Gedächtnis. Bis zum Winter 1945/46 fehlt ihr die Erinnerung.

Etwas Schreckliches muß geschehen sein, ist sie selbst überzeugt. Historisch belegt ist, daß es in der Nacht vom 13. auf den 14. April einen schweren Angriff britischer Bomber auf Wismar gegeben hat. Später, am 2. Mai 1945, besetzten britische und kanadische Truppen die Stadt. Zwei Monate danach kam die Rote Armee. Was in dieser Zeit mit Gisela Feyer geschieht, bleibt Spekulation.

Als ihre Erinnerung wieder einsetzt, ist es „bitter kalt“. Sie ist wieder in Königsberg. Warum, wie und wieso weiß sie nicht. Hunger herrscht in Ostpreußen. Hunderttausende sterben. Die Russen hatten die deutsche Bevölkerung ihrem Schicksal überlassen. Die Mutter ist vom Nahrungsmangel „vollkommen ausgemergelt“. Kilometerweit sei sie umhergezogen, um für ihre Kinder und sich selbst etwas Eßbares zu finden. „Sie kam nicht immer mit etwas zurück“, beschreibt Gisela Feyer die verzweifelte Situation der Familie.

Sie erzählt von den alten Brotkrümeln, die zwischen den Holzritzen eines Tisches liegen. Wie sie versucht, sie mit den Händen herauszubekommen.  Nicht immer gelingt es. Sie essen Brennesseln, eine „Delikatesse“ jener Zeit. Ein Tag vergeht quälend langsam, jegliches Zeitgefühl ist abhanden gekommen. Sie weiß nicht mehr, wie lang es gedauert hatte, bis ihre Mutter eines Tages stark zu röcheln begann. Gisela Feyer kennt dieses Röcheln. Jene Laute, die bei so vielen schon die Vorboten des Hungertodes waren. Sie rennt zu ihrer Tante, die unweit von ihrer neuen Unterkunft lebt. „Mutter stirbt!“ ruft sie. Die Tante hilft. Mit einem Eßlöffel Mehl und etwas Wasser. Das muß reichen. Die Mutter kann das Mehl nicht mehr aufnehmen, sie ist zu schwach. Auch das Wasser hilft nicht mehr. Giselas Mutter stirbt.

Die Tante kümmert sich jetzt um die Zwillingsschwestern. Heimlich flieht sie mit ihnen in einem Güterwagen ins litauische Kaunas. Sie überleben durch Betteln. Und selbst das ist mit Schwierigkeiten verbunden. „Wir waren die Faschisten, jeder hatte Angst, uns zu helfen. Wir waren deutsche Schweine“, schildert Gisela Feyer die damalige Situation. Die Tante will schließlich zurück nach Ostpreußen. „Wir werden sowieso alle sterben“, hatte sie zu ihren Nichten gesagt. Sie wolle ihre letzten Tage in der Heimat verbringen.

„Wir lebten in einem Land, in dem wir keine Rechte hatten“

Die Geschwister bleiben in Litauen. Sie werden Wolfskinder. Sie übernachten in Kellern fremder Häuser. Sie klopfen an fremde Türen. Verlaust, stumm, die Augen weit aufgerissen, die Hand aufhaltend. „Jedem war klar, was los ist und um wen es sich bei solchen Kindern handelt“, erklärt Luise Quietsch die Angst vor Repressalien, wenn man Deutschen Hilfe leistete.

Dennoch nimmt sich eine Litauerin der Schwestern an, zieht sie vier Jahre lang groß. Manchmal gegen die Proteste ihres Mannes. „Wir haben doch selbst kaum was“, hatte Gisela Feyer ihn manchmal reden hören. Die deutsche Herkunft halten die Schwestern geheim, ihre Namen legen sie ab. Schnell lernen sie die Sprache, besuchen schließlich die Schule. 1950 erfährt eine Lehrerin von ihren elenden Verhältnissen. Sie sorgt dafür, daß sie in einem Kinderheim unterkommen.

„Von da an hatten wir genug zu essen“, sagt Gisela Feyer. Bis 1958 bleibt sie im Heim, macht ihr Abitur mit Note „sehr gut“. Die Lehrer wollen sie auf die Universität schicken. „Aber dafür hatte ich nicht genügend Geld.“ Sie beginnt als Technikerin in Wilna zu arbeiten. Ihre Schwester Doris ging bereits 1954 nach Kaunas, verdiente sich ihren Unterhalt als Weberin. Doch der Kontakt der Schwestern besteht bis heute. Nur eines konnten sie lange nicht: über ihre Herkunft reden. Nicht in der Sowjet-union. „Wir lebten in einem Land, in dem wir keine Rechte hatten. Und was wir einmal hatten liegt in weiter Ferne“, faßt Luise Quietsch das Schicksal der Wolfskinder zusammen.

Es war 1994, als die ferne Vergangenheit für Gisela Feyer näher kam. Als sie in den Nachrichten von dem Verein „Edelweiß“ erfuhr. Leute, die das Schicksal mit ihr teilten. Erstmals nach langer Zeit beginnt die Suche nach Angehörigen. „Zu Sowjetzeiten war das viel zu gefährlich“, erklärt Luise Quietsch. Gisela Feyer sucht nach der Tante, deren Namen sie nicht mehr kennt.

In der Heimatortskartei findet sich eine Spur. Die Auskunftsstelle teilt ihr im November 1995 die Existenz zweier Tanten mit, beide in Königsberg geboren. Doch obwohl die politischen Schranken gefallen sind, kann Gisela Feyer sie nicht aufsuchen. Beide sind verstorben. Die letzten verwandtschaftlichen Brücken nach Deutschland sind gerissen. Was bleibt, ist das alte Schwarzweißfoto ihrer Familie, das bei der Suche nach ihrer Vergangenheit gefunden wurde.

Foto: Wolfskind Gisela Feyer: 1942 mit ihrer Mutter Hedwig, Vater Willy und Zwillingsschwester Doris (u. r.) auf dem Familienfoto und heute zusammen mit der Edelweiß-Vorsitzenden Luise Quietsch (o.l.).

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