© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

CD: Pop
Lebenshilfen
Georg Ginster

Wann immer eine neue Generation die Musikbühne betritt, regt sich die Hoffnung, daß endlich jemand einmal die altersgemäße Ignoranz aufbringt, ohne Vorbilder auszukommen und den weiterhin unermüdlichen Ü-40- bis Ü-70-Popgrößen die Reverenz zu verweigern. Derartige Versuche sind in einem strukturkonservativen Gewerbe, in dem unablässig Traditionslinien fortgeschrieben und allenfalls neu verwoben werden, naturgemäß rar. Wo sie zu beobachten waren, speisten sie sich nicht selten aus einer bloßen Attitüde und die Ausführung mißriet. Noch häufiger konnte die Unwissenheit nicht davor schützen, Altbekanntes aufzuwärmen. So mögen Punk-Bands heute immer noch stolz auf ihren voraussetzungslosen Dilettantismus sein. Im Ergebnis klingen sie nicht anders als die Urväter von 1977.

Wer sich selbst den Spaß nicht verderben will, sollte Newcomer daher nicht allzu akribisch daraufhin abklopfen, wie innovativ sie tatsächlich sind. Dies gilt auch für Kate Nash, der nachgesagt wird, einen neuen Typus „junger und selbstbewußter“ Briten zu verkörpern, die „eigene Wege gehen“. Dieser eigene Weg ist zunächst nicht mehr als eine vorgebliche „Natürlichkeit“ und somit der Verzicht darauf, sich selbst als eine als solche auf Anhieb erkennbare Kunstfigur zu inszenieren.

Für eine derartige Gegenbewegung gegen einen eskalierenden Wettlauf der Maskeraden gibt es in der Pophistorie überreichlich Anschauungsmaterial, sie wird dem zeitlosen, pragmatischen Grundbedürfnis breiter Schichten des Publikums gerecht, das Alltagserleben mit einem adäquaten Soundtrack zu verzieren. Überspannte Dissonanzen haben in diesem ihren Platz, es geht ja nicht um ein Entweder-Oder, aber die Dauerrolle einer Lady Gaga überfordert und nutzt sich rasch ab.

Kate Nash versteht es hingegen, auch auf ihrem zweiten Album, „My Best Friend Is You“ (Polydor), den Eindruck zu erwecken, als böte der Alltag lauter Überraschungen, als wäre er gerade dank der Fülle an Unerfreulichem gar nicht so eintönig wie er erscheinen mag. Es gibt die leidvolle Liebe, die einen auf richtig tiefsinnige Gedanken bringt, blöde Menschen, über die man sich ärgert, Sprachlosigkeit in Beziehungen, die Lust und den Geschlechtsverkehr, dessen Stupidität die listige Natur dankenswerterweise ja erfolgreich verschleiert, lauter tolle Sachen also, die einem die Zeit vertreiben und über die sich Kate Nash frech und unbekümmert ergeht, als hätte sie und als hätten ihre Hörer ihr Leben in der Hand.

Die Musik ist dabei, genau besehen, eher Nebensache, ein Mischmasch aus Ausflügen, die von der Ausgangsbasis eines maßvollen und unspektakulären „Indie-Rock“ mit Sprechgesangeinlagen aus unternommen werden, diesmal sogar etwas zahlreicher als auf der Debüt-CD. Wie massentauglich, ja andockfähig an Schlagerwelten dies ist, hat der Siegeszug des Nash-Doubles Lena Meyer-Landrut gezeigt.

So viel naive Lebensfreude kann natürlich auch gehörig auf die Nerven gehen, aber an Angeboten, die Erkenntnisvorsprung durch Melancholie versprechen, ist ja kein Mangel. Versierte Experten auf diesem Gebiet sind seit über einem Jahrzehnt die Mannen der amerikanischen Band The National, die mit Alben in gemächlicher Taktzahl ein wachsendes Publikum um sich schart. „High Violet“ (4AD) ist das neueste und ausgereifteste, wenn auch nicht aufregendste. Es kündet von den Untiefen der Existenz, der Fremdheit gerade des vermeintlich Vertrauten, der Unerfüllbarkeit des Liebesbedürfnisses und dergleichen mehr, das ganze hübsch in Rätseln angedeutet, weil das Leben bekanntermaßen ja rätselhaft ist. Raffiniert ist das opulente und zugleich dezente Arrangement, was sich aber nur bei sehr aufmerksamem Zuhören erschließt.

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