© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

Im Deutschen gibt es dafür kein Wort
Die Journalistin Ingeborg Jacobs zeichnet den Leidensweg des Wolfskinds Liesabeth Otto aus dem ostpreußischen Wehlau nach
Alexander Lechler

Wolfskinder ist die Bezeichnung für deutsche Kriegswaisen, die nach 1945 auf der Suche nach Lebensmöglichkeiten in außerdeutsche Zusammenhänge gerieten und später als Erwachsene im Ausland unter falscher Identität leben mußten.“ Dieses Zitat stammt aus der Satzung des Wolfskinder Geschichtsvereins und mag sehr zutreffend sein. Gleichzeitig ist es aber auch sehr nichtssagend. Zumindest muß man unweigerlich zu diesem Schluß kommen, wenn man das  Buch „Wolfskind“ von Ingeborg Jacobs gelesen hat. Die Odyssee der heute 72jährigen Liesabeth Otto ist, müßte man es mit einem Wort beschreiben, erschütternd.

Das sehr authentisch und zurückhaltend geschriebene Buch fesselt in jedem Augenblick des Lesens. Es ist unfaßbar, daß ein Mensch solche Qualen überhaupt überleben kann, ohne seinen Lebensmut zu verlieren. An mehreren Stellen des Buches sagt Liesabeth Otto, daß es dafür im Deutschen kein Wort gebe, bezieht sich dabei indes auf Ausdrücke und Flüche der Russen. Tatsächlich gibt es für die Leiden des kleinen Wolfskinds und später der erwachsenen Frau kein richtiges Wort in der deutschen Sprache.

Die kleine Liesabeth muß als Achtjährige erleben, wie 1945 auf der Flucht aus dem ostpreußischen Wehlau ihre Mutter in Danzig verhungert. Sie und ihre Geschwister (13 und 11 Jahre alt) schlagen sich wieder bis nach Ostpreußen durch, wo sich die älteren durch Sklavenarbeit für die Rote Armee kärgliche Rationen von Nahrungsmitteln erschuften. Der Hunger dominiert. Als um ein wenig Nahrung ein Streit entbrennt, trennt sich Liesabeth von Bruder und Schwester und macht sich aus Ostpreußen alleine auf den Weg nach Litauen, weil es dort bessere Aussichten auf etwas erbetteltes Essen gibt. Erst später erfährt sie, daß die Schwester 1948 wie die Mutter verhungert ist.

Anders als andere Deutsche wird sie nicht von der Roten Armee aufgegriffen und nach Deutschland vertrieben, sondern irrt bis 1953 in ganz Litauen umher. Gewalt und Tod begleiten sie auf Schritt und Tritt. Bereits als kleines Mädchen ist sie demgegenüber völlig abgestumpft, selbst das eigene Leben zählt so gut wie nichts. Gezeichnet von einer Vergewaltigung, Schlägen und Hunger begeht sie aus der Not heraus einen Diebstahl und wird in ein Kinderarbeitslager verbracht. Von der vorzeitigen Entlassung kann sie nicht profitieren, die Freiheit nicht nutzen. Die Not ist zu groß.

Ein weiterer Diebstahl bringt ihr eine weitere Haftstrafe ein, jetzt in der Umgebung von Schwerkriminellen. Die Gewalt ist allgegenwärtig. Nach einer weiteren Vergewaltigung wird sie schwanger, muß das Neugeborene   aber einer Frau überlassen, die entlassen wird. Sehr viel später erfährt sie, daß das Kind bereits wenige Tage später verstorben ist. Erst 1961 kann sie das beginnen, was man halbwegs als normales Leben bezeichnet. Halbwegs normal heißt, Anfeindungen gegen sie als Deutsche ertragen zu müssen, härteste Arbeit, keinerlei Luxus, keine Zuneigungen, geschweige denn Liebe. Weitere Schicksalsschläge muß sie hinnehmen: den nochmaligen Verlust eines Kindes. Auch die Suche nach dem Vater und dem Bruder verläuft erfolglos, da die Deutsche sich nicht im Königsberger Gebiet aufhalten darf.

Endlich, 1976, scheint sich eine Wende in ihrem Leben abzuzeichnen. Über das Deutsche Rote Kreuz kann sie Vater und Bruder in der Bundesrepublik ausfindig machen und reist mit ihrer Tochter Elena tatsächlich aus. Glücklich wird sie jedoch auch hier nicht, zu groß sind die Anpassungsschwierigkeiten an ein ihr unbekanntes Deutschland. Probleme mit dem gerade erst wiedergefundenen Bruder erschweren die Situation zusätzlich. 1977 werden die Spannungen so groß, daß Liesabeth beschließt, Deutschland in Richtung Sibirien zu verlassen. Aber auch dort erlebt sie weitere menschliche Enttäuschungen.

Mit viel Geschick gelingt es ihr 1980 wenigstens, in ihre Heimat, nach Ostpreußen, zu ziehen. Durch die finanzielle Unterstützung des Vaters kann sie sich sogar ein eigenes kleines Häuschen leisten. Der Neid der russischen Nachbarn und die noch nicht verheilten Wunden des Krieges sorgen aber auch hier immer wieder für Probleme. Begrüßungen mit „Heil Hitler“ sind an der Tagesordnung, sowie Gewalt gegen ihre „faschistische“ Milchkuh sowie gegen sie selbst. Erst 1985 mit Gorbatschow und der Perestroika verbessert sich langsam ihre Lage – zumindest bis 1999, bis zum Ausbruch des Kosovo-Kriegs. Aufgrund der Beteiligung der Bundeswehr kommt es wieder zu Gewalt gegen Deutsche in Rußland.

1994 lernt das ehemalige Wolfskind die Autorin des Buches, Ingeborg Jacobs, kennen. Die 1957 in Solingen geborene Jacobs beschäftigt sich seit längerem mit zeitgeschichtlichen Themen, seit 1995 ist sie freie Mitarbeiterin beim ZDF. Ihre Dokumentationen wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Wirtschaftsfilmpreis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Auch für den Dokumentarfilm über Liesabeth Otto, der auf Arte und ZDF ausgestrahlt wurde, erhielt sie Preise. „Wolfskind“ schildert einerseits ein Schicksal, das exemplarisch für viele Deutsche steht. Auch wenn manche Wolfskinder nach jahrelangem Martyrium bis Ende der vierziger Jahre in die Bundesrepublik gelangten, mußten viele ihr Schicksal im Osten fristen. So auch Liesabeth, ihr Leiden schien kein Ende zu nehmen. Trotzdem verfiel sie nie in Selbstmitleid, blieb bis heute eine starke Frau. Ingeborg Jacobs gelang es auf eindrucksvolle Weise, dieses Leben aufzuzeichnen. Das Buch erhält daher das Prädikat „extrem lesenswert“.

Ingeborg Jacobs: Wolfskind. Die unglaubliche Lebensgeschichte des ostpreußischen Mädchens Liesabeth Otto. Propyläen-Verlag, Berlin 2010, gebunden, 315 Seiten, Abbildungen, 19,95 Euro.

Foto: Liesabeth mit ihren älteren Geschwistern in Wehlau, 1938: Nach dem Hungertod der Mutter völlig auf sich allein gestellt

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