© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

Auf eine Lüge mehr kam es nicht an
Die Ostgebiete und das Potsdamer Abkommen: Stalin behauptete, daß seine Rotarmisten den deutschen Osten bereits entvölkert hätten
Oliver Busch

Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945, so der Völkerrechtler Erich Kaufmann, sei nicht wie Pallas Athene in voller Rüstung plötzlich dem Haupte des Zeus entstiegen. Ganz im Gegenteil: Wer die diplomatische Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die nach Stalingrad intensiver geführten Verhandlungen zwischen Moskau, London und Washington über das „Nachkriegsschicksal“ des Deutschen Reiches verfolgt, dürfte in den Vereinbarungen, die die „Großen Drei“ im Potsdamer Cäcilienhof trafen, nur so etwas wie eine notarielle Beglaubing früherer in Teheran, Quebec, Moskau und vor allem Jalta (Februar 1945) ausgehandelter Regularien des alliierten Besatzungsregimes sehen. Insofern konnte Kaufmann denn auch zutreffend resümieren, dieses Abkommen biete rechtlich „nichts Neues und nichts Besonderers“.

Trotzdem sahen sich Politiker, Völkerrechtler und Zeithistoriker bis zum Mauerfall gezwungen, die deutsche Geschichte nach1945 nicht auf Jalta, wo die Weichen gestellt wurden, sondern auf Potsdam zurückzuführen. Vor allem deshalb, weil die nochmals zwischen Churchill, dem ihn während der Konferenz ablösenden Clement Att-lee, Truman und Stalin festgezurrte Übereinkunft über die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze, denen die Sieger das „besiegte Deutschland in der Periode der alliierten Kontrolle“ zu unterwerfen gedachten, wenige Wochen später auch wirklich den Alltag in dem in vier Besatzungszonen aufgeteilten Reichsgebiet bestimmte.

Maximalismus der polnischen Exilregierung in London

Schon am 30. Juli 1945 trat der Alliierte Kontrollrat erstmals zusammen, in dessen Händen die „oberste Staatsgewalt“ in Deutschland lag. Fortan tagte er regelmäßig im US-Sektor Berlins. Allerdings nur bis zum März 1948, als der „Kalte Krieg“ in seine erste heiße Phase trat, die Anti-Hitler-Koalition endgültig zerfiel, die Sowjets den Kontrollrat verließen, damit die Viermächteverwaltung sprengten und die deutsche Teilung anbahnten, die sich 1949 in der Gründung von Bundesrepublik und DDR realisierte. Quasi als unfreiwilliger Geburtshelfer dieser beiden Staatsgebilde schrieb sich „Potsdam“ aber ins kollektive Gedächtnis der West- und Mitteldeutschen ein.

Aber wesentlich tiefere Spuren hinterließen ausgerechnet jene Fixierungen des Abkommens, die jenen Teil Deutschlands betrafen, der nach 1990 gern als „Polen“ oder, mit Blick auf das nördliche Ostpreußen, als „Rußland“ wahrgenommen wird. „Tiefere Spuren“ – zumindest wenn man sich die Bonner Außenpolitik bis zu den Ostverträgen mit Moskau und Warschau (1970) anschaut. Denn Hauptthema der Potsdamer Konferenz, noch vor den Reparationsfragen und der Stalin wenig interssierenden „demokratischen“ Umgestaltung Deutschlands, war die Festlegung einer neuen deutschen Ostgrenze. Die Sowjets hatten schon 1941 darauf gedrängt, die polnische Kriegsbeute von 1920, das nur von einer polnischen Minderheit besiedelte Gebiet östlich von Narew und San, zurückzuerhalten. Dafür wollten sie Polen mit preußischen Provinzen „entschädigen“.Die polnische Exilregierung in London, die ebenfalls Ansprüche auf Deutschland östlich der Oder erhob, wollte indes in ihrem Maximalismus gleichzeitig „Ostpolen“ nicht preisgeben. Mit einer willfährigen polnisch-kommunistischen „Gegenregierung“ beseitigte Stalin solche Widerstände. In Jalta setzte er durch, daß Churchill und Roosevelt die polnische „Westverschiebung“ bis zur Oder und zur westlichen Neiße grosso modo akzeptierten.

Der britische Premierminister und Roosevelts Nachfolger Harry S. Truman begannen sich im Frühjahr 1945 jedoch verstärkt um die unaufhaltsam scheinende Expansion des Sowjetimperiums zu sorgen, der man an den Ostsee-Ausgängen und an der Adria nur mit Mühe einen Riegel vorschob. In Potsdam war es daher Churchill, der Stalin Paroli bot und erklärte, er lasse nicht zu, daß Ostdeutschland polnisch werde. Das sei auch für das den Großmächten „alles“ verdankende Polen, das im Westen ein viel wertvolleres Territorium erhalten soll, als es im Osten verliere, „nicht gut“. Stalin, dem es auf eine Lüge mehr oder weniger wahrlich nicht ankam, behauptete dagegen, vom Frischen Haff bis Oberschlesien werde das Gebiet nur noch von Polen bewohnt. Die Deutschen seien alle vor der Roten Armee geflohen. Die beiden Angelsachsen konterten mit Bevölkerungszahlen, stimmten aber, um hier schon einen Bruch mit dem Diktator zu vermeiden, der „Aussiedlung“ der doch vermeintlich schon Geflohenen zu.

„Endgültiges“ würde später im Friedensvertrag geregelt

Immerhin führte ihre Reserve zu dem folgenreichen Vorbehalt im Abschnit IX des Potsdamer Abkommens, der Polen nur die zeitweilige Verwaltung des größeren Teils der ostdeutschen Ostprovinzen übertrug und die endgültige Grenzregelung einem Friedensvertrag mit Deutschland überließ. Diese Passagen des Abkommens wurden zur Leitlinie der Bonner Ostpolitik bis 1970. Schulatlanten, die Pommern, Schlesien, Ostbrandenburg, West- und Ostpreußen bis in die frühen 1970er Jahre hinein als zu Deutschland gehörig auswiesen, lediglich mit dem Aufdruck „z. Zt. unter polnischer Verwaltung“ versehen, spiegelten daher nicht nur die völkerrechtlichen Gegebenheiten wider, sondern zeugten von dem breiten öffentlichen Bewußtsein, für das acht Jahrhunderte deutscher Geschichte und Kultur nicht dieseits der Oder endeten. Die Versuche Polens, durch einseitige Deklarationen sich diesen Teil des de jure fortbestehenden Deutschen Reiches einzuverleiben, verstießen gegen das Annexionsverbot der Atlantik-Charta (1941) und das Gewaltverbot der UN-Satzung (1945) – waren mithin völkerrechtlich nichtig.

Erst mit den Ostverträgen, in denen die von Teilen der CDU nicht nur klammheimlich unterstützte SPD/FDP Koalition Willy Brandts die von Moskau und Warschau de facto ausgeübte Gebietshoheit als „verbindlich“ anerkannte, sank das Potsdamer Abkommen zum „Formelkram“ herab. Willy Brandt versuchte zwar, die weit über den Kreis der Vertriebenen hinausgehende Empörung über diesen „Verzicht“ durch den Hinweis zu entkräften, daß „Endgültiges“ ja nur durch den in Potsdam avisierten „Friedensvertrag“ geregelt werde.

Das dereinst „wiedervereinigte Deutschland“ sei also durch die Ostverträge nicht gebunden. Eine Argumentation, die jeder Jurastudent als venire contra factum proprium (Zuwiderhandlung gegen das eigene frühere Verhalten) entlarven konnte, da die Bonner Republik doch stets die Nachfolge und die rechtliche Identität mit dem Deutschen Reich reklamierte, nun aber unverfroren behauptete, in Moskau und Warschau nicht für das „wiedervereinigte Deutschland“ unterschrieben zu haben.

Ungeachtet dessen hätte Willy Brandts späterer Nachfolger Helmut Kohl „Potsdam“ sogar noch 1990 ostpolitisch instrumentalisieren können, da das internationale Management der „kleinen Wiedervereinigung“ („Zwei-plus-Vier“) nicht nur keinen Potsdamer Friedensvertrag brachte, sondern auch eine Bestätigung der „Grenze“ an Oder und Neiße, die, will man den Memoiren der Kohl, Genscher, Teltschik et al. glauben, auf massiven Druck der westlichen „Freunde“ Bonns zustande kam. Mithin, soviel juristische Akrobatik darf sein, nicht aus „freiem Willen“. Ein Mangel, der schon jeden Waschmaschinenkauf rechtlich stranden läßt.

Foto: Clement Attlee, Harry Truman und Josef Stalin in Potsdam: Mit der beschlossenen „Aussiedlung“ der Ostdeutschen Fakten schaffen

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