© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

Wenn Gedenken kryptisch ist
Ende Juli 1945 wurde in Aussig an der Elbe im Sudetenland von Tschechen ein Massaker an deutschen Zivilisten verübt
Gerolf Fritsche

Wer heute über die Elbbrücke in Aussig geht, die ausgerechnet nach demjenigen Edvard Beneš benannt ist, der es als „notwendig“ erachtete, „Deutsche in den böhmischen Ländern kompromißlos zu liquidieren“, findet dort am Geländer der flußabwärts gewandten Seite eine Gedenktafel angebracht. Zweisprachig trägt sie die einfache Inschrift: „Zum Gedenken an die Opfer der Gewalt vom 31. Juli 1945“. Ohne Vorwissen ist die Entschlüsselung dieser lapidaren Botschaft kaum möglich. Gedacht werden soll der Opfer des Pogroms, das an diesem Tag tschechische Milizionäre und Zivilisten gegen deutsche Zivilisten in Aussig verübten, nicht nur auf der Brücke. Diese stand aber im Mittelpunkt des Geschehens.

Massaker als Vorwand für die Vertreibung initiiert

Am 31. Juli 1945 kam es nach einer Explosion in einem im Stadtteil Schönpriesen gelegenen Munitionsdepot zu geplanten Pogromen gegen die deutsche Zivilbevölkerung, die an mehreren Punkten in Aussig zeitgleich begannen. Nach Erkenntnissen aus der Forschung des Historikers Otfrid Pustejovsky (Die Konferenz von Potsdam und das Massaker von Aussig am 31. Juli 1945, Herbig Verlag, München 2001) aus geheimen tschechischen Unterlagen war der Anschlag auf das Depot und auch die angebliche Reaktion gegenüber der Bevölkerung eine gezielte Aktion der Abteilung Z des tschechoslowakischen Innenministeriums, des OBZ. Das Ziel der Aktion war, für die in Potsdam tagenden Alliierten einen klar erkennbaren Grund zu schaffen, die restlose Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland zu beschließen. Dem Massaker von Aussig fielen nach Angaben Überlebender bis zu 2.700, nach offiziellen tschechischen Angaben lediglich zwischen 40 und 100 deutsche Zivilisten zum Opfer. Dramatische Szenen spielten sich auf und an der Elbbrücke ab, wo es zu zahlreichen Ermordungen kam bzw. von der viele ins Wasser gestürzte Zivilisten erschossen wurden. Viele Leichen trieben auf der Elbe bis ins benachbarte Sachsen. Allein bei Meißen wurden achtzig Ermordete aus der Elbe gezogen.

Es ist erfreulich, daß heute die Tafel dort hängt, erfreulich, wenn man bedenkt, daß jahrzehntelang hier nur einzelne scheu und in ihrer Trauer unerkannt stehen durften. Daß man sich heute an diesem Ort versammeln kann, ohne verächtlich gemacht und angegriffen zu werden, verdanken die Angehörigen vor allem den heutigen Verantwortlichen in der tschechischen Stadt. Auf jeden Fall kann man die Existenz wenigstens dieser kryptischen Gedenktafel, die vor fast genau fünf Jahren angebracht werden konnte, zahlreichen Namenlosen zuschreiben, die wahrscheinlich nie mehr genannt werden.

Zu ihnen gehören Schüler einer 10. Klasse der Wilhelm-von-Oranien-Schule aus Dillenburg in Hessen, die sich vor 20 Jahren sehr intensiv mit dem deutsch-tschechischen Verhältnis beschäftigt und an dem Schülerwettbewerb „Aufbruch in ein neues Europa“ teilgenommen hatte. Im Mai 1991 traten sie eine einwöchige Studienreise nach Aussig an. Ein damaliger Abteilungsleiter der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Herfried Stingl, schrieb in seiner Begründung des Sonderpreises: „Anerkennung verdient insbesondere das vielfältige Engagement für die Verständigung zwischen beiden Völkern.“

Ungesühntes Massaker ließ den Schülern keine Ruhe

Die Schüler hatten am 21. November 1990 einen offenen Brief an den Bürgermeister der Stadt Aussig (tschechisch Ústí nad Labem) gerichtet, mit der Bitte, an der Elbbrücke eine Gedenktafel zur Erinnerung an das Massaker zu errichten. Auf eine Antwort warteten sie vergebens. Das ungesühnte Massaker ließ den deutschen Schülern aber keine Ruhe. Sie schrieben dann an Jiří Gruša, den tschechoslowakischen Botschafter in Bonn, der zur deutschfreundlichen Elite seines Landes gehörte und aufgeschlossen genug war, die Idee gut zu finden und die Schüler in ihrem Anliegen zu bestärken. In die Hoheit der Stadt konnte er zwar nicht eingreifen. Er ermutigte aber die Schüler in einem Brief vom 28. Mai 1991: „In diesem Moment seid ihr also in einem Nachbarland, das nach langer Zeit mit offenen Händen seine Gäste empfängt, Gäste, die mit der begrüßenswerten Absicht kommen, tiefe und persönliche Kontakte zu knüpfen und ihren Beitrag zum Abbau alter Vorurteile als Priorität bei der Durchsetzung des alten Traumes vom vereinigten Europa zu betrachten.“ Und weiter: „Leider haben wir auf euren Brief an die Stadt Usti /n.L. noch keine Antwort erhalten. Wir bleiben aber in dieser Angelegenheit noch miteinander in Kontakt und werden es euch sofort wissen lassen, wenn wir darüber Informationen erhalten.“ Eine Antwort des Bürgermeisters, des Primators gab es nicht. Bei einem persönlichen Besuch im Rathaus der Stadt wurde die Delegation der Schüler nicht empfangen.

Damals waren sie neugierig auf die Entwicklung in der Tschechoslowakei unter ihrem charismatischen Präsidenten Vaclav Havel, und weil sie außerdem mit Eckhard Scheld einen kundigen Fachlehrer hatten, nahmen sie Kontakt mit dem Gymnasium Stavbařů auf. Sie machten eine Begegnungsreise nach Aussig und hatten einige unerwartet interessante Tage mit den tschechischen Schülern. Sie wurden begleitet von dem Schriftsteller Ota Filip und einem Team des Bayerischen Rundfunks.

Nicht wenig erstaunt waren die deutschen Schüler, als sie mit den tschechischen Mitschülern und Lehrern über das Geschehen auf der Brücke sprechen wollten. Die tschechischen Schüler und Lehrer wußten fast nichts, unterschätzten die Dimension des Massakers völlig. Das tat der Freundschaft der jungen Leute keinen Abbruch. Ermutigt wurden sie ebenso von Isolde Heyne sowie Reiner Kunze, dessen Frau Elisabeth aus Aussig stammt, und Kunzes Übertragung des Gedichtes „Berührungen – dotyky“ des tschechischen Lyrikers Jan Skácel wurde Teil des Begegnungsprogramms beim Besuch der tschechischen Schüler 1992 in Dillenburg. Am 23. Februar 1993 schrieben Elisabeth und Reiner Kunze in einem Brief an die Schüler: „Ich möchte ihren Schülerinnen und Schülern und den Schülerinnen und Schülern aus Usti sehr danken, daß sie mit soviel Engagement aufeinander zugehen. Dieses Aufeinanderzugehen ist letztlich die einzige Hoffnung, die ich habe. Ich gehe reihum und drücke ihnen und den Schülerinnen und Schülern die Hand.“

Erst 2005 Anbringung einer neutralen Gedenktafel

Doch die Zeit war offenbar Anfang der Neunziger noch nicht reif zu mehr Reflexion und der Kontakt zu dem tschechischen Gymnasium Stavbařů schlief ein. Aber diese Aktion wurde jedenfalls zu einem kleinen Anstoß, der eine Bewegung anschwellen ließ, die schließlich allen Hindernissen zum Trotz zu dieser ersten Gedenktafel an das Pogrom auf der Brücke führte. Es sollten noch 14 Jahre vergehen, bis diese Tafel am 31. Juli 2005 in einem Festakt mit über 300 Personen vom Oberbürgermeister Petr Gandalovič auf der Beneš-Brücke als „Zeichen der Versöhnung“ an der Elbbrücke angebracht werden konnte. Eine juristische Aufarbeitung der Massenmorde ist nie erfolgt.

Foto: Die Elbbrücke von Aussig vor 1939, Kranz vor heutiger Gedenktafel am Brückengeländer: Die Leichen trieben bis Meißen

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