© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/10 30. Juli / 06. August 2010
Kolumne Man muß das Wahre fortwährend wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird und zwar nicht von Einzelnen, sondern von der Masse. Ganz sicher stünde selbst der große Goethe, von dem diese tiefe Einsicht stammt, fassungslos vor der menschengemachten Loveparade-Katastrophe von Duisburg. Er hätte sich aber wohl durchaus mit sehr ähnlichen Gedanken getragen unter dem Eindruck eines derart furchtbaren Geschehens. Eines wäre dem Dichter- und Denkerfürsten indes kaum zu vermitteln gewesen: die Bezeichnung Liebesparade ausgerechnet für solch ein infernalisches Spektakel auf der nach oben offenen Lärmskala. Liebe als Trommelfellterror was sich zu Goethes Zeiten noch niemand je ausgemalt hätte, elektrisiert und verzückt heutzutage Millionen. Und die Dinge fügen sich: Das Zeitalter der Menschenmassen ist zugleich untrennbar auch die hohe Zeit der Massenmedien. Also wird auf die Tube gedrückt. Immer mehr, immer knalliger, immer doller. Sogenannte Event-Aktionisten sprengen sämtliche Grenzen. Wer nicht alle, auch die allerletzten Register zieht, fällt gnadenlos durchs Sieb, bleibt links und rechts in den Seitengräben jenes gewinnverheißenden Erfolgsweges zurück, auf dem die Macher, die schrillen Tonangeber unterwegs sind. Die Publikumsmasse wird zum Fetisch. Die Werbezielgruppe setzt das Maß. Auch nach Duisburg mußten aus dem Stand die Schuldigen her. Und wieder, allen voran, intonierten insbesondere die Medien die Melodie Haltet den Dieb!. Dabei hatten doch Presse, Funk und Fernsehen die Loveparade-Massen wochenlang geradezu nach Duisburg getrommelt, ja gepeitscht auf einen Geländestreifen, der einem solchen Andrang nicht gewachsen war. Merke daher: Ernsthafte Selbstkritik hat noch niemandem geschadet, bevor man auf die anderen losgeht. Doch allzu weit ist es damit leider nicht her, nicht nur in Deutschlands Redaktionsetagen. Lieber fordert man, möglichst lautstark, unumgängliche personelle Konsequenzen anderwärts. Köpfe sollen rollen für ebenfalls immer wieder neue verkaufsfördernde Schlagzeilen. Aber so ist es eben ringsumher um eine der augenfälligsten Zeit(geist)erscheinungen unserer Tage bestellt: Verantwortung wird immer seltener (auch) als Eigenverantwortung oder Mitverantwortung verstanden, die es ehrlich und aufrichtig zu erkennen und zu bekennen gelten müßte. Weit über die Tragödie von Duisburg hinaus.
Rolf Dressler war langjähriger Chefredakteur beim Westfalen-Blatt in Bielefeld und ist nun freier Journalist. |