© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/10 30. Juli / 06. August 2010

„Der deutsche Horizont“
Der Schriftsteller Richard Wagner über die Deutschen und ihre Landschaft
Moritz Schwarz

Herr Wagner, der Harz gilt als „typisch deutsche Landschaft“, stimmt das?

Wagner: Alles kollektive Streben wird irgendwann einmal über die Achse geschoben. Diese Bewegung läßt alles andere nebensächlich erscheinen. In Deutschland ist es die Reformation, die alles verrückt. Der Harz will ihr Territorium sein. Luther spricht plötzlich Lutherdeutsch, und selbst die DDR konnte sich dem nicht entziehen. Auch sie schickte einen Maler los, Werner Tübke, der sollte es richten.

Viele Deutsche fliegen im Urlaub allerdings lieber ins Ausland, als die klassischen „deutschen Sehnsuchtsorte“ zu besuchen.

Wagner: Wer das eigene Land nicht kennt, der kann es sich auch nicht aneignen. Die meisten Deutschen, die im Urlaub ins Ausland fliegen, wissen im übrigen gar nicht, wo sie hinreisen. Sie reisen in die Ortlosigkeit. Im Ausland läßt sich alles so gut abstrahieren. Man kann ganze Länder zu Stränden erklären und die Einwohnerschaft zu Kellnern umschulen. Das geht daheim nicht. Man kann nicht in Mühlhausen herumstehen, und auf den Bus warten, ohne zu wissen wer Thomas Müntzer war. Die Heimat ist anstrengend. Sie wartet mit einer Bügelfalte auf der Stirn auf.

Im letzten Sommer haben wir Helgoland vorgestellt (JF 33/09), warum entwickeln sich manche Landschaften zu Sehnsuchtsorten?

Wagner: Landschaft ist Panorama und Mythos in einem. Im Panorama steckt die Aussicht, im Mythos das Versprechen. Inwiefern sie zur Wirkung kommen, liegt am jeweiligen Betrachter. Es gibt den Wissenden, den Ahnungsvollen, den Unwissenden und den Ignoranten. Man kann überall die Zeichen der Vergangenheit vermuten, wie am Kyff-häuser und um ihn herum, oder gar den gegenwärtigen Niedergang feststellen, den Sieg der Idee des Reformhauses über die Idee des Umsturzes, und das in allen anstehenden Fragen, nirgends ein Durchbruch, überall nur das große Gesundbeten, oder nur Rastplätze vorfinden – die auch noch falsch beschildert sind. Der Deutsche korrigiert gerne auch mal seinen Baedeker. Selbst im Harz, wenn er jauchzend nach Wernigerode wandert. Darum geht es aber nicht. Es geht vielmehr um das Gewicht des Mythos, der nicht restlos aufklärbar ist.

Also gibt es die – im metaphysischen Sinne – „deutsche Landschaft“, oder bilden wir uns das nur ein?

Wagner: Heidegger sagt es so: „Wenn wir das Wesen des Baumes suchen, müssen wir gewahr werden, daß jenes, was jeden Baum als Baum durchwaltet, nicht selber ein Baum ist, der sich zwischen den übrigen Bäumen antreffen läßt.“ Deutsche Landschaft kann nur so sein, wie sie das kollektive Gedächtnis gespeichert hat. Und das hat sich an sehr unterschiedlichen Orten umgetan. Blickt man beispielsweise über die hohe Ebene bei Tübingen, über das Plateau, wiederholt man den Blick von Hölderlin, und der eine oder andere mag dabei an etwas erinnert werden. Das Plateau ist nicht eine stumme Herausforderung, sondern eine schweigende. Der Blick, der keine Begrenzung findet, weitet sich bis zur Überdehnung. Er kann nicht ausweichen. Das ist Schicksal und Chance des Betrachters. Er kann es zum Meistersinger bringen oder zum Wortführer.

Das Konzept der metaphysischen, nationalpolitischen Aufladung der Landschaft stammt aus dem 19. Jahrhundert und gilt vielen daher zumindest als überholt, ...

Wagner: Zur Verzauberung der deutschen Landschaften trug wesentlich die Malerei bei. Gerade sie widerlegt am besten die triumphierende Behauptung der Kulturwissenschaften, daß das alles eine Erfindung des 19. Jahrhunderts sei. Denken Sie an Altdorfers „Gebirgszug“ von 1530. In ihm ist schon der gesamte Hodler mit seiner Alpenmalerei präsent, um nicht zu sagen, vorweggenommen. Das kollektive Gedächtnis fußt auf der kollektiven Namensgebung. Man eignet sich etwas an, indem man es benennt. Das gilt auch für die Landschaft. Geographie ist nicht zuletzt Einübung. In welcher Form es dazu kommt, hat viel mit den jeweiligen Zeitumständen zu tun, die nicht selten Moden und Trends folgen. Wir sind nicht eine abgeklärte Zeit, sondern eine banalisierte, in der nichts mehr aufregend ist, nicht einmal das Nichts, und man sich mit der Banalisierung sogar brüstet. Die abgedrängte Erhabenheit der Landschaft schlägt angesichts dieser optimierten Leere zurück. Das regierende Banausentum aber redet vom Schutz der Natur, und die Hysterien sind größer denn je.

„Hysterie“ ist das Stichwort, um die vorherige Frage zu vollenden: ... wenn nicht seit 1945 als desavouiert.

Wagner: Diese Art Distanzierung ist nichts weiter als ein Ritual, für das es weder einen aktuellen Anlaß gibt, noch die vielbeschworene Notwendigkeit. Metaphysik läßt sich nicht erzwingen. Sie fragt nicht einmal. Die Landschaften prägen eine Nation wie die Dialekte ihre Sprache. Erst die Verbindung zwischen Sprache und Landschaft schafft den Ort der belastbaren Geborgenheit. Man nennt es auch Heimat. So etwas läßt sich nicht befehlen. Generationen haben sich nach und nach in eine Landschaft hineingedacht und hineingesprochen. Die Details sind überall zu finden, in den Märchen, in der Volksweisheit, in der hohen Kunst. Landschaft prägt die Gruppe und den einzelnen gleichermaßen. Wer erinnert sich nicht an eine Landschaft seiner Kindheit? Daß es nicht egal ist, ob man auf dem flachen Land aufgewachsen ist, in der Gebirgsstadt oder am Meer, wird kaum jemand bestreiten.

Welche Rolle spielt die Landschaft für unser „Deutschsein“?

Wagner: Die Landschaft setzt die Akzente. In ihr ist nichts dem Zufall überlassen. Ihre mythische Kraft besteht wohl darin, daß sie Ursache und Wirkung nicht voneinander trennt. Der Mythos prägt die Landschaft, die ihn hervorgebracht hat. Wer kann schon wirklich sagen, was es mit dem Loreley-Felsen auf sich hat? Seine Bedeutung wird erst deutlich, wenn man Neuschwanstein zum Vergleich nimmt. Die Loreley ist erhaben, Neuschwanstein ist Kitsch.

Wenn unsere Landschaft ihre Identität verliert, verlieren dann auch wir unsere?

Wagner: Unsere Landschaft kann ihre Identität nicht verlieren, es sei denn wir verwandeln unser gesamtes Territorium in einen Braunkohletagebau. Verlorengehen kann nur unser Erkennungsvermögen, was diese Identität angeht. Wenn uns nichts mehr mit der Landschaft verbindet, wenn uns Spessart-Räuberpistolen und Schwarzwälder Uhren nichts mehr sagen, weil wir uns an nichts mehr erinnern, wenn kein Märchen und kein Gedicht uns mehr auf der Zunge liegt, weder von Heine noch von Fallersleben, dann hüllt sich die Landschaft für uns in Schweigen, sie verweigert sich, und das zu Recht.

Glauben Sie, daß dieser Zusammenhang in Politik und Öffentlichkeit noch begriffen wird?

Wagner: Auch dieser Zusammenhang wird in den  Räumen der Selbstdarstellung längst nicht mehr verstanden. Man hat in den einschlägigen Büros der Sprachregelung die Aufklärung gründlich mißverstanden. Man hält sich für aufgeklärt, sobald man alles, was sich dem Rationalismus und dessen Hang zum Portionieren nicht unterordnen läßt, als unverständlich deklariert, und deshalb auch aus dem Einübungsprogramm der Schulen entfernt hat.

Welche Folgen zeitigt das?

Wagner: Es sind nicht wenige, die sich ehrlich bemühen, in die deutsche Geschichte als Abwickler unserer kulturellen Hinterlassenschaft zu gelangen. So mancher von diesen Leuten hat immer noch ein schlechtes Gewissen beim Anblick der deutschen Fahne innerhalb und außerhalb der WM-Koordinaten. Die Flagge trägt immerhin die Farben von 1848. Die historisch Empörten aber wollten die Nation verabschieden, und das zugunsten einer Ideologie. Sie dachten, sie könnten die Marx-Engels-Gesamtausgabe als ihre Heimat betrachten, oder wenigstens Suhrkamps Schwarze Reihe, oder sonst eine Sparlampe der Zeit.

Gibt es außer dem metaphysischen Zusammenhang von Nation, Politik und Landschaft vielleicht auch einen realen?

Wagner: Politik hat von Realitäten auszugehen, ihr bleibt gar nichts anderes übrig. Ob sie sich dazu bekennt oder nicht, ist eine andere Frage. Die Totengräber kommen aus der gleichen Landschaft wie das zu Begrabende. Zumindest im Ausland wird man sie an den Spuren, die sie mit sich tragen, erkennen. Sie können sich noch so gut auf englisch verständigen, in einem dieser Auslande, in welchem auch immer, sind sie umgehend als Deutsche erkannt.

Der Schweizer Verleger Roger Köppel verweist darauf, daß die Berge die Ursache für die Entwicklung der Freiheit in der Schweiz gewesen seien. Sind die deutschen Mittelgebirge, wie der Harz, vielleicht nicht hoch genug gewesen für eine freiheitliche Tradition?

Wagner: Ich denke, wenn ein Köppel von der Höhe seiner Schweizer Alpen auf Deutschland herabblickt, wird er Tiefland sehen. Das ist natürlich etwas anderes als ein Gebirge, es ist in der Regel der Grundriß für eine Stadt. Alle nennenswerten Metropolen der abendländischen Welt liegen in der Ebene. Das Gebirge begünstigt nicht die Freiheit, es macht es bloß einfacher, sich dem größeren Zusammenhang zu entziehen. Im übrigen leben die Menschen ja nicht auf der Bergspitze, auf dem Gipfel, sondern im Tal. Oben steht im besten Fall das Kreuz, wie in Caspar David Friedrichs „Tetschener Altar“. So daß im Grunde das Leben der Ebene im Passepartout erhalten bleibt. Man kann sich Deutschland durchaus ohne die Alpen vorstellen, aber ohne die Lüneburger Heide schon weniger. Auch in Königsberg soll nicht unbedingt ein Gebirge die Stadt umrahmt haben.

Im Süden die Alpen, in der Mitte Mittelgebirge, im Norden Ebenen und Küste. Hat der Deutsche bei diesem Sammelsurium überhaupt eine Landschaft, die ihn politisch prägen konnte?

Wagner: Die Alpen sind bekanntlich da, wo sie sind, um uns bequem vom Süden zu trennen. Aber auch der Rest ist nicht einfach nur Dekoration. Wer Landschaftskulisse sagt, der weiß nicht, wovon er spricht. Die Identität der Deutschen ist eine regionale.

Als wahre deutsche Landschaft gilt deshalb der Wald – er wächst am Alpenrand ebenso wie auf den Mittelgebirgen oder in den Ebenen. 

Wagner: Wann genau der Wald zum deutschen Wald wurde, ist unklar. Seine Verheißung der Geborgenheit als Waldeinsamkeit mag eine spätere Erkenntnis sein. Im Mittelalter jedenfalls soll es durchaus gefährlich gewesen sein, sich im Wald aufzuhalten. Es wird um die Symbolik der Varusschlacht gehen, um die Unterscheidung vom Römer. Eine zwiespältige Angelegenheit.

Sie kommen aus einer ganz anderen Landschaft, dem Banat, Siedlungsgebiet der Banater Schwaben. Welche Rolle spielt das für Sie?

Wagner: Mein Banat war flach. Das Dorf, in dem ich aufwuchs, lag an einem Fluß, an der Marosch. Man kennt ihn durch den Dichter Lenau. Den Horizont bildeten die Akazienwälder, die die Habsburger zur Grundwasserregulierung anpflanzen ließen. Zwischen ihnen lagen die endlosen Felder, mal war es Weizen, mal Mais. Dahinter aber war nicht nur der Horizont, dahinter war die Welt, und sie war unerreichbar wie der Horizont. Es herrschte der Kommunismus in den Dörfern der Heide, und weiter im Süden, im Hügelland und in den Bergen auch. Ich ging fort.

Jede Landschaft hat ihren Horizont. Was ist „der deutsche Horizont“, wie eines Ihrer Bücher heißt?

Wagner: Der deutsche Horizont ist der Horizont unseres Denkens von Landschaftsbildern, getragen und durch Sprache geformt. Für mich am besten zu erkennen in dem Joseph-von-Eichendorff-Gedicht „In einem kühlen Grunde“.

 

Richard Wagner, der preisgekrönte Schriftsteller, regelmäßige Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und Gastkommentator des Deutschlandfunks besticht sowohl durch seine von der Kritik hochgelobten Romane – etwa „Miss Bukarest“ (2001), „Habseligkeiten“ (2004) oder „Das reiche Mädchen“ (2007) – als auch durch seine scharfen, mitunter heftig befehdeten Gesellschaftsanalysen. Zuletzt erregte er mit seiner Polemik „Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte“ (2008) und zuvor mit seiner Liebeserklärung „Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes“ (2006, alle Aufbau-Verlag) die Gemüter.

Geboren 1952 im rumänischen Banat, siedelte er 1987 gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau, der späteren Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, nach Deutschland aus.

Foto: Blick vom Brocken (Harz): „Landschaften prägen eine Nation wie Dialekte ihre Sprache ...Man nennt es Heimat. Generationen haben nach und nach (dort) hineingedacht, hineingesprochen“

 

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