© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/10 30. Juli / 06. August 2010

Wunderschöner Harz
Deutsche Sehnsuchtsorte: Das Mittelgebirge zwischen Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
Hinrich Rohbohm

Heftig schnaufend kündigt sie sich schon von weitem an: Mit lautem Pfeifen kommt die Harzer Brockenbahn um die Biegung gefahren und hält auf den kleinen Bahnhof von Schierke zu. Der in der östlichen Harzstadt Wernigerode gestartete Zug ist bereits gut gefüllt. Hunderte weitere Passagiere haben sich am Bahnsteig eingefunden, erwarten gespannt und mit begierigen Blicken die Einfahrt. Kameras werden aus Rucksäcken hervorgekramt. Mancher Fotograf steht gar auf den Gleisen, um einen guten Schnappschuß vom historischen Dampfgefährt zu machen.

Ein Augenblick, der sich so auch vor über 100 Jahren abgespielt haben könnte, die modernen Fotohandys, Digitalkameras und Spiegelreflexgeräte der Touristen einmal ausgenommen. Damals, genauer gesagt am 20. Juni 1898 wurde der erste Abschnitt der Brockenbahn eröffnet. Er führte von Drei-Annen-Hohne nach Schierke. Drei Monate später erfolgte die Bauabnahme für die Reststrecke bis auf den Brockengipfel. Das ungeduldige Zischen der Lok scheint zum Einsteigen zu mahnen. 26 Euro kosten Hin- und Rückfahrt ab dem Schierker Bahnhof.

Sitzplätze im Zug sind Mangelware. Sie sind von Reisenden belegt, die schon in Wernigerode zugestiegen sind. Viele Passagiere stehen in den Gängen. Bis zu zwölf Personen lassen die Bahnbediensteten draußen auf den Plattformen an den Enden der Bahnwaggons zu, den sogenannten Perrons. Ein begehrter Platz bei 33 Grad Außentemperatur. Da ist ein kühler, erfrischender Fahrtwind willkommen.

Ein letzter ungeduldiger Pfiff ertönt aus dem Innern der Dampflok. Dann geht es los. Vorbei an den sattgrünen Fichten, die ab und zu einen atemberaubenden Blick auf den gegenüber liegenden Wurmberg freigeben. Langsam aber kontinuierlich bahnt sich der Zug seinen Weg bergauf, während man immer wieder mal von den schwarzgrauen Rauchschwaden, die die Lok aus ihrem Kessel herausspeit, eingenebelt wird. Es wird kühler. Und der Baumbewuchs mit zunehmender Höhe kleiner. Schließlich, nach gut 30minütiger Fahrt prägen nur noch Büsche die Vegetation.

Das Ziel ist in Sicht: die Spitze des Brockens mit seinem mächtigen rot-weißen Sendemast, der steil in die Höhe ragt. Daneben ein weiteres Gebäude, auf dessen Dach ein großer Fußball zu liegen scheint. Das Brockenhotel, in dessen obersten Etagen sich zwei Restaurants und eine Aussichtsplattform befinden. Es ist das höchstgelegene Hotel Norddeutschlands und war früher ein Fernsehturm – der älteste der Welt. Heinrich Heine hatte hier genächtigt, nachdem er den Berg bei nebliger Witterung bestiegen hatte. „Viele Steine, müde Beine, Aussicht keine, Heinrich Heine“, soll der Dichter 1824 daher in seinem Tagebuch vermerkt haben. Auch Goethe ließ sich vom Brocken inspirieren, wählte ihn als Schauplatz für sein Drama „Faust I“.

Eine andere Persönlichkeit gehört dagegen nicht zu den Literaten, dürfte den Brocken inzwischen jedoch in- und auswendig kennen. Die Rede ist von „Brocken-Benno“, dem Mann, der den Berg seit zwanzig Jahren nahezu täglich besteigt. Lange Zeit war ein Aufstieg zum Brocken, Norddeutschlands höchstem Berg, nicht möglich. Das DDR-Regime hatte ihn 1961 zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Erst am 3. Dezember 1989 sorgten friedliche Demonstranten dafür, daß auch das Volk den Gipfel wieder betreten durfte. Und seitdem ist Brocken-Benno hier – kurz aber ständig – Gast.

„Der kommt hoch, holt sich seinen Wanderstempel ab und geht wieder hinunter“, beschreibt ihn ein Bediensteter des Brockenhauses, einem Gebäude, das wegen seiner DDR-Abhöreinrichtungen auch als „Stasi-Moschee“ bezeichnet wird. Am 21. Mai hatte Benno Schmidt, so sein richtiger Name, seinen sechstausendsten Aufstieg hinter sich gebracht. „Er möchte noch auf 6.666 kommen und dann soll Schluß sein“, weiß der Bedienstete über den 78jährigen zu erzählen.

Ein Besuch des Brockenhauses lohnt sich: In der Kuppel sind noch immer die alten Antennen zu sehen, mit denen das Ministerium für Staatssicherheit einst den Westen ausspioniert hatte. Darüber hinaus ist hier die Geschichte der auf dem Berggipfel stationierten sowjetischen Soldaten und DDR-Grenzer sowie die Befreiung des Brockens vom Kommunismus dokumentiert.

Der Brocken ist aber auch ein Ort der Sagen. Als „Blocksberg“ erlangte er mystische Berühmtheit. Hexenversammlungen sollen hier abgehalten worden sein, besonders zur Walpurgisnacht. Schon um 1300 wird der Berg als Sammelplatz von Geisterwesen genannt. Eines dieser Geisterwesen ist das Brockengespenst. Es entsteht durch eine optische Täuschung im Nebel, der an mehr als 300 Tagen im Jahr auf dem Brocken herrscht. Schon Goethe hatte dieses Phänomen bei seinem Winteraufstieg im Jahr 1777 beschrieben.

Der Theologe und Naturforscher Johann Esaias Silberschlag beschrieb das vermeintliche Geistwesen drei Jahre später so: „Wenn der Schatten des Beobachters auf eine Nebel- oder Wolken-Schicht fällt, wird der Schatten nicht durch eine feste Fläche abgebildet, sondern durch jeden Wassertropfen des Dunstes einzeln. Dadurch kann das Gehirn den Schatten nicht stereoskopisch sehen und überschätzt die Größe deutlich. Durch Luftbewegungen bewegt sich der Schatten, selbst wenn der Beobachter still steht. Dieses scheinbar eigene Wesen kann zudem schweben, ohne sichtbaren Kontakt zum Boden zu haben. Die anderen physikalischen Bedingungen auf dem Berg, kühle und feuchte Luft, Stille sowie die fehlende Orientierung durch mangelnden Weitblick und fehlende Nachbarberge, verstärken den subjektiven Eindruck der scheinbaren Existenz eines ‘Gespenstes’.“

Von den Höhen des Brockens geht die Reise in das tiefe Innere des Rammelsberges, einer 635 Meter hohen Erhebung nahe der Stadt Goslar. Über tausend Jahre lang wurde hier Bergbau betrieben und Erz zutage gefördert, bis ins Jahr 1988 hinein. Heute zählt das Bergwerk zum Weltkulturerbe der Unesco. Die Luft wird schlagartig kalt, als Museumsführer Richard Rudolf die Pforte in das Reich des Berginneren öffnet. Immer tiefer dringt seine Besuchergruppe in den Roederstollen ein. Die meisten sind nur mit einem spärlichen Hemd bekleidet; sie frösteln angesichts der niedrigen Temperatur von knapp 10 Grad unter Tage, während das Quecksilber auf der Oberfläche des Berges über 30 Grad anzeigt.

Die Gänge werden schmaler, die Wände feuchter. Auf dem Boden sind mit zunehmendem Eindringen in den Berg immer mehr und größere Pfützen auszumachen. „Bleiben Sie bloß alle zusammen, das ist heute die letzte Führung“, mahnt Rudolf seine Gäste, die aus Sicherheitsgründen einen gelben Schutzhelm tragen müssen. Er zeigt auf ein mächtiges Wasserrad, erklärt, wie es zur Entwässerung des Stollens diente und zugleich als Zugmaschine genutzt wurde, um die schweren Erze an die Erdoberfläche befördern zu können. „Wenn es Ihnen zu kalt ist, rücken sie einfach ganz nah zusammen und wärmen sich gegenseitig“, scherzt Rudolf, während es über steile Treppen im Dunkel des Gänge-Labyrinths hinauf und herunter geht. Den Spruch sagt er öfter bei seinen Führungen. Nicht immer folgenlos: „Ein Herr und eine Dame, die sich gar nicht kannten, haben das einmal sehr wörtlich genommen“, verrät er eine kleine Anekdote aus einer seiner Besichtigungstouren. „Sie gingen dann händchenhaltend durch die Gänge.“ Einige Monate später habe das Paar dann geheiratet.

Vielleicht hat es seine Flitterwochen in Wernigerode verbracht. Die nötige Romantik bietet die an der Nordostflanke des Harzes gelegene 35.000 Einwohner zählende Stadt jedenfalls. Zum Beispiel mit ihrem schmucken Schloß, bis 1929 Wohnsitz des Grafen zu Stolberg-Wernigerode. Eine Schloßbahn erspart den mühsamen Aufstieg. Oben angekommen, wird der Besucher mit einem atemberaubenden Blick über Wernigerode belohnt, bevor er sich an die Besichtigung der Schloßanlage macht. Auch die Innenstadt ist sehenswert. Zahlreiche Fachwerkbauten schmücken die Altstadt. Das schon 1277 als Spiel- und Gerichtshaus erwähnte Rathaus gilt als eines der schönsten Europas.

Doch ein Besuch im Harz wäre unvollständig, ohne den Blick auf die Natur zu wenden. Etwa auf das Okertal, wo besonders die Stelle zwischen dem Ort Oker und der Okertalsperre sehenswert ist. Auch ein prominenter „tierischer“ Bewohner sollte daher nicht unerwähnt bleiben: der Luchs. Vor zehn Jahren wurde im Nationalpark Harz erstmals in Deutschland die größte europäische Wildkatze wiederangesiedelt. Seitdem heißt es: „Ein alter Harzer ist zurück!“

Fotos: Bahnhof Schierke: Der erste Abschnitt der auf den Brocken führenden Schmalspurbahn wurde bereits 1898 eröffnet, Schloß Wernigerode: Im 12. Jahrhundert als Burg errichtet, im 16. Jahrhundert zur Renaissancefestung umgebaut, Okertal zwischen Goslar und dem Bergstädtchen Altenau im Harz; einheimischer Luchs: „Ein alter Harzer ist zurück!“ – Seit zehn Jahren läuft ein Wiederansiedlungsprojekt für die im Harz Anfang des 19. Jahrhunderts ausgerottete größte europäische Raubkatze (www.luchsprojekt-harz.de; www.harzluchs.de), Hexenpuppe aus Wernigerode: Der Brocken gilt seit dem Mittelalter dem Volksglauben nach als Versammlungsort von Geist- und Zauberwesen, Blick vom Brocken: „Weit und breit die Bergesgipfel / In dem Nebelmeere schwimmen“ (Heinrich Heine)

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