© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/10 30. Juli / 06. August 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Vollbeschäftigung
Karl Heinzen

Zu den nachhaltigen Erfolgen der Sozialpolitik in den zurückliegenden Jahren gehört es, daß die Öffentlichkeit heute keine klare Vorstellung mehr davon hat, wer genau unter dem Begriff „arbeitslos“ erfaßt ist und wer nicht. Wo die offizielle Statistik kaum noch Anhaltspunkte für eine Einschätzung der wirklichen Lage am Arbeitsmarkt bietet, eröffnen sich zugleich Spielräume für eine flexiblere Auslegung dessen, was man unter Vollbeschäftigung zu verstehen hat.

Unterdessen scheint sich unter Ökonomen die Einsicht durchzusetzen, daß dieser Begriff bereits dann anzuwenden ist, wenn die Arbeitslosenquote auf unter fünf Prozent fällt. Derzeit liegt sie in Deutschland bei 7,5 Prozent, wir sind von diesem Ziel also noch ein kleines Stück entfernt.

Dies wird sich jedoch, so meint das Forschungsinstitut „Kiel Economics“, schon bald ändern. Bereits im Jahr 2014 könnte die Zahl der Arbeitslosen nur noch 1,84 Millionen betragen, was einer Quote von 4,5 Prozent entspräche. Die Wissenschaftler sehen in dieser Entwicklung vor allem eine Langzeitfolge der Hartz-Reformen in der Ära Schröder.

Ganz andere Faktoren meint hingegen das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zu erkennen. Es hält langfristig sogar noch mehr Vollbeschäftigung für möglich und prognostiziert für das Jahr 2025 eine Arbeitslosenzahl von knapp 1,5 Millionen. Dies sei jedoch in erster Linie der Demographie geschuldet. Mit dem Tempo, in dem die Zahl der erwerbsfähigen Personen sinkt, kann die Rationalisierung in den Betrieben offenbar nicht mehr mithalten.

Für die Unternehmen birgt dies das Risiko, daß Wettbewerbsfähigkeit und Ertragskraft allmählich nachlassen. Sie werden gezwungen sein, auch Menschen mit weniger überzeugendem Leistungspotential zu beschäftigen, auf die sie heute gerne verzichten. Manche Stellen, für die Spezialqualifikationen erforderlich sind, mögen sogar unbesetzt bleiben.

Vor allem aber wird den Arbeitgebern das psychologische Instrument entwunden, mit dem sie derzeit noch Lohnzurückhaltung durchsetzen können. Wo die Erwerbslosigkeit gering ist, wachsen die Begehrlichkeiten der Beschäftigten, die Gesetze von Angebot und Nachfrage gelten eben leider auch am Arbeitsmarkt. Es reicht daher nicht aus, den Sozialstaat zu demontieren. Wenn die Arbeitnehmer glauben, daß Vollbeschäftigung herrscht, pokern sie hoch, weil sie meinen, nach dem Verlust ihres Jobs sogleich wieder einen neuen finden zu können.

Der leichtfertige Umgang mit diesem Begriff muß daher ein Ende finden.

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