© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Ideologische Kammerjägerei
Vertriebenenzentrum: Der Bund der Vertriebenen wird immer weiter in die Enge getrieben
Thorsten Hinz

Wenn der Gegner am Boden liegt, ist es normalerweise genug. Wer weiter seine Kräfte an ihm erprobt, weidet sich an der Wehrlosigkeit und Demütigung des Schwächeren und betritt den Bereich der Perversionen. Normalerweise sorgt dieses Verhalten für Ekel – und Selbst­ekel. Deshalb erlaubt gewöhnlich der Stärkere dem Schwächeren, sein Gesicht zu wahren. Er läßt Großmut walten und den Gedanken zu, selber nicht hundertprozentig im Recht zu stehen.

Diese Verhaltensnorm hat keine Gültigkeit, wenn es um den Bund der Vertriebenen (BdV) geht (siehe auch Seite 12). Längst befindet er sich mit dem Rücken zur Wand. Sein wohl letztes Projekt, das Zentrum gegen Vertreibungen, hat sich schon vor der Verwirklichung erledigt. Es wird keine nationale Tragödie würdigen, sondern sie verschleiern und herabstufen. Die energische BdV-Präsidentin Erika Steinbach wurde genötigt, auf ihren Sitz im Stiftungsrat zu verzichten. Die Chancen, im Konzept des Zentrums wenigstens einige Stolpersteine zu plazieren, sind damit gesunken. Jetzt werden die Trostpflaster abgerissen, indem man den BdV-Vertretern, die nach Steinbachs Verzicht in vermehrter Zahl in den Stiftungsrat einziehen durften, klarmacht, daß ihr Standpunkt nichts zählt.

„Provinzielles Museum am Rande des Berliner Zentrums“

Nach intensiver Suche haben Oppositionspolitiker und Medien bei den Vertriebenen-Funktionären Hartmut Saenger und Arnold Tölg vermeintliche Angriffspunkte gefunden. Saenger hatte sich kritisch zur These von der deutschen Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg geäußert, Tölg hatte vor zehn Jahren in der JUNGEN FREIHEIT die Benachteiligung deutscher gegenüber ausländischen Zwangsarbeitern moniert (JF 2/00).

In der Süddeutschen Zeitung zürnte Franziska Augstein unter der Überschrift „Versöhnen oder verhöhnen“, Saen­ger und Tölg täten sich schwer „mit den Einsichten, die in der Bundesrepublik Allgemeingut geworden sind“. Sie verträten Meinungen, „die den Wunsch nach Versöhnung – den Stiftungszweck also – geradezu verhöhnen“. Eben weil Augstein von der Materie keine Ahnung hat, ist ihre Äußerung so aufschlußreich: Ob die Aussagen von Saenger und Tölg richtig oder falsch sind, spielt keine Rolle – es geht um den Schutz eines Geschichtsdogmas, eines verdinglichten, nicht notwendig wahrheitsgetreuen Geschichtsbewußtseins. Der SPD-Politiker Karl Lauterbach hat Tölg schon mal in totalitärer Manier zum „Irren“ erklärt. Für Spiegel Online stellt der Erregungspegel der grünen Bundestagsabgeordneten Claudia Roth und Volker Beck den gültigen Maßstab dar. Die meisten übrigen Medien berichten und kommentieren ähnlich. Und das nächste Kesseltreiben zeichnet sich schon ab. Demnächst werden sogenannte NS-Verstrickungen der Gründergeneration des BdV in den Fokus genommen: eine ideologische Kammerjägerei, gegen die aktuell kein Abwehrmittel existiert.

Angesichts solcher Sach- und Debattenlage kann der Deutschlandexperte der polnischen Gazeta Wyborcza, Bartosz Wielinski, in der taz spotten, der Bund der Vertriebenen sei nur noch „lächerlich“, das geplante Zentrum sei ein „provinzielles Museum am Rande des Berliner Zentrums“ und mit dem EU-Beitritt Polens „auch die leidige Menschenrechtsfrage vom Tisch“. Man kann die Äußerungen zynisch nennen, aber sie treffen – im Unterschied zum Journalismus in der Bundesrepublik – den politischen Kern.

Monströse Wucht und Grausamkeit

Der historische Bildungs- und Empathiemangel in den bundesdeutschen Funktionseliten muß im Zusammenhang mit der historischen „Meistererzählung“ gesehen werden, die seit 1945 das politische und moralische Fundament der internationalen Nachkriegsordnung bildet und der sie sich unterworfen haben. Im Zentrum steht der Sieg des Lichts (der Anti-Hitler-Koalition) über die Finsternis (das nationalsozialistische Deutschland). Dieser Manichäismus, der ihr die naive Überzeugungskraft eines Märchens verleiht, duldet keine Differenzierungen. Daraus folgt, daß die Kinder der deutschen Finsternis die historische Wahrheit – auch die über sich selbst – von den Lichtbringern empfangen, um sie in eigene Erkenntnis zu verwandeln. Genau dieser Prozeß wird durch das Wort „Versöhnung“ bezeichnet und hat zu dem verdinglichten Geschichtsbewußtsein geführt, das zur Selbstprüfung und

-distanz kaum mehr fähig ist. Weite Teile der politischen, wissenschaftlichen und journalistischen Funktionärskaste, aber auch der Bevölkerung haben sich mit ihrem subalternen Status abgefunden, zumal er ihnen auf internationaler Ebene eine relative, wenngleich trügerische Konfliktfreiheit gewährt. In diesem beschränkten Sinne hatte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) recht, als er behauptete, Steinbachs Verzicht entspräche den „deutschen Interessen“. Unter diesen Umständen war die Annahme, der deutsche Staat würde eine Stätte zum Gedenken an die Vertreibung verwirklichen, von Anfang an illusionär.

Mit der Nato-Intervention in Ex-Jugoslawien schien sich doch noch die Möglichkeit zu eröffnen, deutsche Vertriebeneninteressen mit der globalen „Meistererzählung“ in Übereinstimmung zu bringen. Begründet wurde der Militärschlag nämlich mit der „Lehre“ aus dem Zweiten Weltkrieg, keine neuen Massenvertreibungen in Europa zuzulassen. Steinbach nutzte die scheinbare Koinzidenz, um Unterstützung für ihr Zentrum zu mobilisieren.

Doch der Widerspruch blieb bestehen, daß eine Thematisierung der Vertreibung der Deutschen die manichäische Geschichtsideologie auf längere Sicht sprengen würde, selbst wenn sie sich zunächst in deren Rahmen abspielte. Denn der Vorgang war von so monströser Wucht und Grausamkeit, daß seine ungefilterte Darstellung mit den Selbstbildern der Vertreiberstaaten und der Anti-Hitler-Koalition in Konflikt geraten würde. Die Übereinstimmung, auf die Frau Steinbach setzte, erwies sich denn auch als propagandistisch bedingt und flüchtig. Alle Zeichen weisen unerbittlich in Richtung „Versöhnung“, das heißt, die deutschen Funktionseliten nötigen dem Land die geschichtsverfälschende Selbstverleugnung auf, die sie selbst verinnerlicht haben.

Die Tiefendimension dieses Vorgangs hat der Philosoph Leo Strauss in einer Deutung von  Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ formuliert: „Die Verständigung um jeden Preis ist nur möglich als Verständigung auf Kosten des Sinns des menschlichen Lebens; denn sie ist nur möglich, wenn der Mensch darauf verzichtet, die Frage nach dem Richtigen zu stellen; und verzichtet der Mensch auf diese Frage, so verzichtet er darauf, ein Mensch zu sein.“

Die meisten Funktionäre haben diesen Verzicht geleistet, er war die politische und wohl auch psychologische Voraussetzung, um in privilegierte Positionen einzurücken. Das erklärt ihren eingangs erwähnten Kontrollverlust, nämlich die völlige Abwesenheit von Ekel und Selbstekel, wenn die formale Beschwörung humanistischer Werte sich mit der Pervertierung humaner Verhaltensnormen verbindet. Die Kampagne gegen den BdV richtet sich daher nicht gegen „Ewiggestrige“, sondern gegen das Heute und die Zukunft, gegen das Land, die Wahrheit und letztlich gegen die menschliche Natur selbst.

 

Stichwort: Zentrum gegen Vertreibungen

Das von der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ und dem Deutschen Historischen Museum  getragene Vertriebenenzentrum soll nach dem Willen des Bundestages „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen“ wachhalten. Das geplante Ausstellungs-, Dokumentations- und Informationszentrum wird im Berliner Deutschlandhaus untergebracht. Bis zum Herbst will der Direktor der Stiftung, Manfred Kittel, Eckpunkte für die Konzeption einer Dauerausstellung vorlegen. Kittel zur Seite gestellt ist ein 21köpfiger Stiftungsrat und ein Wissenschaftlicher Beirat mit 15 Mitgliedern. Grundlage für das Zentrum ist die Vereinbarung der Großen Koalition von 2005, zur Erinnerung an die Vertreibung in Berlin ein  „sichtbares Zeichen“ zu errichten.

Foto: Erika Steinbach bei einer Gedenkveranstaltung vor dem Stuttgarter Vertriebenenmahnmal in der vergangenen Woche: Die Chancen der Vertriebenen, Einfluß auf die geplante Gedenk- und Dokumentationsstätte zu nehmen, sind weiter gesunken

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