© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Hermann siegte im westfälischen Sumpf
Fand die berühmte Varusschlacht 9 n. Chr. wirklich in Kalkriese statt? / Linguistische Interpretationen deuten auf den Raum Paderborn
Christian Nekvedavicius

Fand die Vernichtung der Varus-Armee 9 n. Chr. tatsächlich bei Kalkriese statt? Auch wenn sich die Archäologie und die Geschichte des Altertums mittlerweile mit diesem historischen Ort arrangiert haben, sind Zweifel an der herrschenden These durchaus berechtigt, da ein derart großer Heerzug römischer Legionäre in einer von allen Nachschublagern abgeschiedenen Region wie dem nördlichen Rand des Wiehengebirges zumindest der bis dahin praktizierten Taktik der Römer widerspricht.

Laut dem Griechisch-lateinischen etymologischen Wörterbuch von Alois Vanicek von 1877 hat „Saltus“ auch die Bedeutung von Bruch oder bewaldetem Sumpf. Speziell bezieht sich das auf den von Tacitus erwähnten Befehl des Germanicus an seinen Legaten Caecina: „Præmisso Cæcina ut occulta saltuum scrutaretur pontesque et aggeres umido paludum et fallacibus campis imponeret“ – „Caecina wurde vorausgeschickt, um mögliche Schlupfwinkel (von germanischen Stammeskriegern) in den Bruchwäldern zu durchsuchen und um Übergänge (über Wasserläufe) wie auch Dammwege über moorige Böden anzulegen.“

Bruchwaldzonen am Oberlauf von Ems und Lippe

Liest man die Stelle bei Tacitus „haud procul Teutoburgiensi saltu, in quo reliquiæ Vari legionumque insepultæ dicebantur“ als eine Änderung eines früheren Kopisten aus „haud procul Teutobrugiensi saltu“, käme man auf eine Übersetzung, die in etwa lautete: „unweit des Sumpfl andes mit Namen Teutebruk“. Dieser Name bestünde aus dem Grundwort „Brug/Bruk“ – im heutigem Niederdeutschen entspräche dem „Brook“ beziehungsweise Brock, aus dem sich „Bruch“ hergeleitet hat – sowie aus dem Bestimmungswort „Teuto-“ in der Bedeutung „Grenze, Grenzregion“.

Der Name „Teutobrug“ wiese somit auf die Bewohner des Bruchwaldgebietes am Oberlauf von Ems und Lippe, die Brukterer, zum anderen trüge es die Bedeutung der ausgedehnten Ödlandregion westlich des Osnings, die heute „Senne“ (aus „Sint-hidi“ für „Große Heide“) heißt. Bekanntlich rühmten germanische Stämme sich großer Einöden, die ihr Stammesgebiet von dem eines Nachbarstammes trennten. Hierzu könnte die Senne gehört haben, die vor etwa 2.000 Jahren im südwestlichen Teil aus großen Bruchwaldzonen zwischen den Quell- und Unterlaufzonen der Ems und Lippe bestanden haben dürfte.

Das Lager des Varus befand sich somit in einer öden, von sumpfigen Erlenbruchwaldgebieten durchzogenen Gegend, welche als Grenzwildnis die Siedlungsgebiete der Cherusker, Brukterer, Marser und Chatten voneinander trennte. Wenn man gleichwohl traditionell das Bestimmungswort „Teuto-“ mit „Volks-“ übersetzen will, scheint alternativ auch die Möglichkeit zu bestehen, daß das besagte Bruchwaldgebiet eine „Allmende“ der Brukterer darstellte, in der sich auch Opferhaine befanden, und bekanntlich pflegten die Niederungsgermanen in Erlenbrüchen Opfer für die Götter darzubringen.

Was nun den ominösen, in die Lippe mündenden Fluß „Elison“ angeht, der in den Quellen erwähnt wird, so kann es nur die heutige Alme gewesen sein, denn in die Alme mündet, weiter von deren Mündung in die Lippe entfernt, die Eller, deren vermutete germanische Vorstufe „Alisan-Beke“ bzw. Alisan-Aha (Erlenbach) gewesen sein müßte. In germanischer Zeit dürfte die ganze Flußstrecke von der heutigen Almemündung bis zur Quelle des Ellerbachs als ein durchgehender Fluß angesehen worden sein. Der Name „Alme“ hingegen kann sich nur auf den Oberlauf der heutigen Alme beziehen, denn deren Name, der „Ulme“ bedeutet, weist auf Bäume hin, die in Flußauen nicht gedeihen. Laut den Forschungen des Historikers und Archäologen Paul Höfer ist es gerade in dem besagten südlichen Sennegebiethäufig der Fall, daß Flüsse im Unterlauf anders heißen als im Oberlauf.

Trotz der Jahrhunderte später erfolgenden sächsischen Besiedelung dieses Raumes blieb der alte Name des Flusses immerhin im Flurnamen „Ilasan“ erhalten, der später zum Namen des Städtchens Elsen gleich westlich des als Alisan erschlossenen Flüßchens bei Schloß Neuhaus wurde. Weiter wird eine neu angelegte „Burg Ilasan“ (auf dem Gelände des Nachschublagers Aliso- Elison) auch in der Vita Meinwerkii im Jahre 1036 erwähnt. Durch Metathesis wurde aus „Alisan“ im späteren Verlauf – „Ilasan“.

Auf der hochwasserfreien, von drei Wasserläufen (Lippe, Elison, Pader-Julia) geschützten Fast-Insel Neuhaus vermutet man das so gut wie uneinnehmbare römische Kastell „Aliso“. Im Jahre 16 haben die Truppen des Germanicus die das Kastell Aliso belagernden Germanen vertrieben, um aber auch festzustellen, daß diese sowohl den Grabhügel mit den Gebeinen der Varus-Legionäre als auch den Drusus-Altar zerstört hatten.

Das Varus-Lager lag nahe dem Nachschubkastell Aliso

Hieraus drängt sich die hohe Wahrscheinlichkeit auf, daß beide Landmale sozusagen in Sichtweite von Aliso lagen, jedenfalls unweit des Belagerungsringes der Germanen. Es kann sich allenfalls um eine Entfernung von wenigen hundert Metern gehandelt haben, kein Lagerkommandant entfernte sich damals weiter von seiner eigenen Nachschubquelle. In einem Halbkreis von etwa 300 bis 500 Metern in nördlicher bis südlicher Richtung von Neuhaus müßte das Lager des Varus aufzufinden sein, da auch der von den Belagerern zerstörte Grabhügel der Varus-Legionäre nicht weit von einem der Wälle des Todeslagers gelegen haben muß. Hieraus folgt, daß Varus’ Standlager zwar inmitten eines bewaldeten Sumpfgebietes ( Velleius Paterculus: „inclusus silvis, paludibus“) angelegt war, allerdings jedoch auf einer erhöhten, trockenen Fläche.

Diese erhöhte, recht ebene Terrasse findet sich, noch heute fast ganz von Wald bestanden, auf dem sogenannten „Wilhelmsberg“, der sich 350 bis 450 Meter vom Nordostrand des Nachschublagers Aliso erstreckt. Und in der Tat lassen sich dort eindeutige Spuren von Lagergräben nachweisen, die auf ein Lager von knapp dreißig Hektar Fläche schließen lassen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die augusteischen Legionen nur eine Mannschaftsstärke von 3.600 Legionärenhatten, sollten für ein Zweilegionslager rund 29 Hektar Fläche ausreichen, wobei angesichts des Fehlens des dritten Lagerpräfekten – nur Eggius und Ceionius waren offenbar im Lager anwesend – angenommen wird, daß Varus’ Standlager nur eine Besatzung von zwei Legionen zu insgesamt 7.200 Mann hatte. Die dritte Legion mag zumindest teilweise in Aliso untergebracht gewesen sein, dem etwa 23 Hektar großen Nachschubkastell. Das Lager selbst wurde nach Tacitus unzerstört aufgefunden, wohl als gebannter, den Göttern geweihter Ort, der mit einem Tabu belegt war. Die vorhergehenden Ausführungen lassen für einen bei Kalkriese angeblich stattgefundenen Endkampf stark dezimierter Varus-Legionen keinen Raum. Die schiere Topographie der damals weglosen, vor allem im südlichen Bereich durchgehend von sumpfigen Erlenbruchwäldern bedeckten Senne, machtes völlig unmöglich, daß hier Tausende von Legionären nebst Maultierwagen und Legionsgeschützen durchgezogen sind, um nach zusätzlicher Durchquerung großer Waldgebiete und nach geschätzt 10 bis 14 Tagen ausgerechnet am Kalkrieser Berg anzukommen.

Die bisherigen Münzfunde mit Varus-Gegenstempel bei Kalkriese lassen es dagegeneher als plausibel erscheinen, daß hier ein Detachement der über die Nordsee und der Ems kommenden Strafexpedition des Tiberius, bestehend wohl aus Teilen der Legionen des Asprenas, die nach den Quellen die Hinterlassenschaft der Varus-Legionäre an sich genommen hatten, im Jahre 10 oder 11 auf eine Wegesperre traf.

Foto: Hermannsdenkmal bei Detmold im Teutoburger Wald: Näher am tatsächlichen Geschehen als das Varus-Museum in Kalkriese bei Osnabrück

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