© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Vom Schreiben zum Glauben
Das Verstummen christlicher Dichter
von Georg Alois Oblinger

Die christliche Literatur steckt schon seit Jahrzehnten in der Krise. Martin Mosebach ist sogar der Auffassung, daß heute gar keine christliche Literatur mehr geschrieben werden kann, weil das christliche Milieu, das hierfür Voraussetzung ist, nicht mehr existiert. Wie aber schaut es auf seiten der Autoren aus? Zunächst einmal dürfte es schwer sein, überhaupt Schriftsteller zu finden, die sich von einer dezidiert christlichen Überzeugung leiten lassen. Und ist es demjenigen, der bewußt als Christ leben möchte, grundsätzlich überhaupt möglich, Lyrik oder Belletristik zu verfassen?

Julien Green stellte bereits die Frage, „ob sich das Schreiben eines Romans mit dem Stand der Gnade vertrage“ und „ob die Tatsache, einen Roman zu schreiben, ein ernsthaft geistliches Bemühen nicht zum Scheitern brächte“. Sören Kierke­gaard hat diese Fragen negativ beantwortet: „Christlich betrachtet, ist (trotz aller Ästhetik) jede Dichterexistenz Sünde, die Sünde: daß man dichtet, statt zu sein, daß sich jemand zum Guten und Wahren durch Phantasie verhält, anstatt das zu sein, was er ist, existentiell danach zu streben, es zu sein.“

Gegenstand eines literarischen Werkes ist immer die Sünde, die hier neben die Gerechtigkeit, die Gnade oder die Heiligkeit tritt. Erst die Präsenz der Sünde verleiht einem Theaterstück oder Roman seine Dramatik. So konnte François Mauriac schreiben: „Nichts kann dagegen getan werden, daß die Sünde das Element des Schriftstellers ist und die Leidenschaften des Herzens das Brot und der Wein, an denen er sich täglich erquickt.“ Mauriac ist davon überzeugt, „daß unsere Romane und Theaterstücke bei den meisten Heiligen, die wir verehren, Abscheu erregt hätten.“ André Gide behauptete sogar, daß es kein Kunstwerk ohne Mithilfe des Teufels gäbe.

Sind also Literatur und entschieden gelebtes Christentum überhaupt nicht miteinander vereinbar? Setzt das Verfassen eines belletristischen Werkes immer voraus, daß man sich auch ausgiebig mit der Sünde beschäftigt? Haben sich deshalb die Heiligen auf das Abfassen von Briefen, autobiographischen Notizen und geistlichen Traktaten beschränkt? Warum gibt es keine heiligen Schriftsteller? Und sind alle Schriftsteller – auch die vermeintlich christlichen – ihrer Berufung untreu geworden?

Léon Bloy beispielsweise erhebt sich selbst gegenüber diesen Vorwurf: „Ich hätte ein Heiliger werden können, ein Wundertäter. Ich bin ein Literat geworden (…) Ich habe nicht getan, was Gott von mir wollte, das ist gewiß.“ Wie Bloy haben auch zahlreiche andere christliche Schriftsteller gedacht. Ein auffallendes Phänomen ist das Verstummen vieler Schriftsteller nach ihrer verstärkten Hinwendung zum Glauben.

Paul Claudel (1868–1955), einer der Hauptvertreter des „Renouveau catholique“, veröffentlichte 1925 sein umfangreiches Drama „Der seidene Schuh“, das als Summe seines geistigen Schaffens gilt. Kurz darauf ist er in der Öffentlichkeit verstummt. Außer einigen kleinen Gedichten hat er nichts mehr geschrieben. Der Grund hierfür liegt in einem Ereignis, das er selbst folgendermaßen beschrieben hat:

Ein auffallendes Phänomen ist das Verstummen vieler Schriftsteller nach ihrer verstärkten Hinwendung zum Glauben. Haben sich deshalb die Heiligen auf das Abfassen von Briefen, autobiographischen Notizen und geistlichen Traktaten beschränkt?

„Ein Drucker – er hieß Pichon – kam mit der Bitte zu mir, ich möchte ihm das Vorwort zu einer neuen Ausgabe der Apokalypse schreiben. Es bedurfte keiner Überlegung, eine solche Bitte abzuschlagen. Jenes Buch des heiligen Johannes, das ich so manches Mal gelesen, hatte mich – trotz seiner funkelnden Schönheiten und trotz seiner fremdartigen Süße, die aus ihm atmet – immer abgeschreckt. Durch seine Heftigkeit, durch seine unbequeme Stellung zwischen Himmel und Erde und wegen seiner herausfordernden Art, mit der es sich ohne Unterlaß an den Verstand des Lesers wendet. ‘Wer es fassen kann, der fasse es.’“ Ich konnte es nicht fassen. Die schlecht sitzenden historischen Auslegungen empörten mich, und ich erwies dem Worte Gottes die Ehre zu glauben, daß es sich durch keine Art von Zeitgebundenheit einschränken läßt. Aber – der aus dem Felde geschlagene Anwalt war durchaus anderer Meinung; Tag und Nacht ließ er mir keine Ruhe. Ich war sechzig Jahre alt, war frei geworden und hatte die Arbeit am ‘Bürgen’ und am ‘Seidenen Schuh’ endgültig vollendet. (…) Ich hatte Zeit. Warum sollte ich also nicht die Nase in jene Apokalypse hineinstecken, welche ein seltsames inneres Drängen meiner Aufmerksamkeit empfahl. Das mochte eine Arbeit von wenigen Tagen sein, von wenigen Wochen höchstens (…) Ich war zu jener Zeit sechzig Jahre alt, sagte ich, jetzt aber habe ich die Dreiundachtzig überschritten, und wohl erst das Grab wird den tollkühnen und leidenschaftlichen Forschungen ein Ende setzen, in die ich mich verwickelt sehe durch eine fortschreitende Verkettung von Fragen und Verlockungen, welchen auszuweichen nicht in meiner Macht stand.“

Durch das Studium der Apokalypse gewinnt Paul Claudel schließlich tiefe Einsichten in die Heilige Schrift und in die Grundlagen des christlichen Lebens. „Ich erkannte schon bald, daß die Apokalypse ihren Sinn von der Ganzheit der Heiligen Schrift empfängt, wie die Richtung eines Flusses am Ende aller Umwege und mannigfacher Windungen bestimmt ist durch die Himmelsgegend, in welche er mündet (…) Kein Vers, der nicht eine Beziehung oder manchmal sogar vielfältige Anspielungen enthielte auf eine zurückliegende Quelle, und wo das Alpha sich nicht verschlänge mit dem Omega.“

Bis zu seinem Lebensende beschäftigt sich Claudel dann mit der Heiligen Schrift. Wenn man die Leidenschaft in seinen vorausgegangenen Werken bedenkt, mag dies überraschen. Doch offensichtlich war für ihn der Punkt gekommen, wo das eigene Dichten abgelöst wurde durch etwas Höheres. Seine eigenen Worte, die immer im Dienste des christlichen Verkündigungsauftrags standen, verblaßten schließlich angesichts des Wortes Gottes selbst.

Jean Racine (1639–1699), Frankreichs erfolgreichster Tragödienautor, hat seine bedeutendsten Werke alle vor seinem dreißigsten Geburtstag verfaßt. Nach der Veröffentlichung seines Meisterwerks „Phèdre“ im Jahr 1667 zog er sich von seiner Aufgabe an der königlichen Hofbühne zurück und widmete sich anderen Tätigkeiten. Seine beiden Spätwerke „Esther“ und „Athalie“ sind biblischen Inhalts und wurden auf eindringliches Bitten nur für die Aufführung in einem Mädcheninternat verfaßt. „Phèdre“ gilt vielen bis heute als vollkommene christliche Tragödie. Friedrich Schiller hat sie als seine letzte schriftstellerische Arbeit ins Deutsche übersetzt.

Wenn auch einige Intrigen seiner Konkurrenten, die zu einer mißlungenen Aufführung der „Phèdre“ beitrugen, ausschlaggebend waren für den Rückzug Racines, so liegen doch die eigentlichen Gründe für sein folgendes literarisches Schweigen tiefer. Er sah einen Widerspruch zwischen künstlerischer und christlicher Existenz. Spiegelt der Künstler in seiner schöpferischen Tätigkeit eher Gott Vater wider, so muß der in der Nachfolge Christi Stehende dessen Opfer widerspiegeln.

Racines Dramen spielen in der griechischen Antike, sind also vorchristlich; seine Hinwendung zum Christentum vollzieht Racine nun, indem er sein Dichtertalent selbst opfert. François Mauriac meint hierzu: „Die Konversion Racines ist sicherlich ein Phänomen, das mit den Tragödien Racines in Zusammenhang steht, den Tragödien in seiner Dichtung und in seinem Leben.“ Kurz vor seinem Tod hat Racine sämtliche Notizen mit Verbesserungen an seinen Stücken ins Feuer geworfen. Damit verzichtet er auch nach seiner Lebenszeit auf irdischen Ruhm. Sollte dies ein Ausdruck dafür sein, daß für ihn nur noch das Ewige zählt?

Ähnlich erging es Nikolai Gogol (1809–1852). Der in ganz Rußland mit Spannung erwartete zweite Teil seines Romans „Die toten Seelen“ wurde ein Opfer der Flammen. Bis heute gibt Gogols Verbrennen des eigenen Werkes große Rätsel auf. Eine psychische Erkrankung Gogols scheint offensichtlich; doch ist ebenso klar, daß Person und Werk Gogols nur von seiner Religiosität her verstanden werden können. Von manichäischem Gedankengut geprägt, verstand er das Christentum so, daß jedem Christen die Flucht aus der von der Sünde geprägten Welt aufgetragen ist.

Das ist die Tragik Gogols: Ohne das Schreiben kann er nicht leben. Wenn er aber sein Christsein so leben will, wie er es versteht, darf er nicht mehr schreiben. Schon Mitte der vierziger Jahre, als seine künstlerische und religiöse Krise begann, schrieb er an einen befreundeten Priester: „Ich nahm mir vor, vom Schreiben abzulassen, da ich sah, daß darin nicht der Wille Gottes liegt. Ich habe keine Lust, über seichte und nichtige Dinge im Leben zu reden; versucht man jedoch, über Hohes zu reden, so begegnet einem hier auf Schritt und Tritt Christus, und man kann viel Ungereimtes sagen.“

Dies war das Lebensdrama sowohl von Racine wie auch von Gogol: In dem Moment, wo sie versuchten, ihren christlichen Glauben ernst zu nehmen, erschien ihnen ihr gesamtes literarisches Werk wie ein Nichts im Vergleich zur Realität Gottes. Wenn sogar einem Thomas von Aquin sein gigantisches theologisches Opus im Vergleich zu dem, was er in einer Vision schauen durfte, „wie Stroh“ vorkommt und er nicht mehr weiter schreiben kann, so ist es nicht verwunderlich, daß die weltlichen Künste verstummen, sobald der Künstler eine Hinwendung zum Glauben vollzogen hat.

Selbst die beste Literatur kann nur ein Vorraum zum Glauben sein. Wer die Schwelle zum Heiligen selbst  überschritten hat, für den mag dieser Vorraum uninteressant sein. Dem Geheimnis Gottes kann man sich am besten im Schweigen nähern.

Ein geradezu klassisches Beispiel für das Verstummen eines christlichen Dichters bietet der englische Lyriker Gerard Manley Hopkins (1844–1889). Er gehörte der Oxford-Bewegung an und konvertierte 1866 unter dem Einfluß von John Henry Newman zum Katholizismus. 1868 trat er in den Jesuitenorden ein und hörte sieben Jahre später auf zu schreiben. Einzige Ausnahme ist die bekannte Ballade „Der Untergang der Deutschland“, die er auf eindringliches Bitten seiner Ordensoberen verfaßte. Alle seine Gedichte wurden posthum veröffentlicht.

Beispiele für dieses Phänomen gibt es auch in der Gegenwart. Gerd-Klaus Kaltenbrunner (geb. 1939), der als Meister des Essays gilt und mehrere Auszeichnungen für sein Lebenswerk erhalten hat, war ein gerngesehener Autor in vielen deutschen Zeitungen, auch in der JUNGEN FREIHEIT. Schrieb er zunächst über konservative und kulturelle Themen, beschränkte er sich nach seiner Hinwendung zum Glauben im Jahr 1990 auf religiöse Themen. Seit 1996 ist er gänzlich verstummt. Wichtig ist ihm der biblische Gedanke, daß jeder für das, was er geschrieben hat, einmal vor Gott Rechenschaft ablegen muß. Daher sieht er inzwischen im Beten mehr Sinn als im Publizieren.

Eine verstärkte Hinwendung zum Glauben läßt sich zudem bei Botho Strauß (geb. 1944) beobachten, dem meistgespielten Gegenwartsautor auf deutschen Bühnen. Schon immer scheute er das Licht der Öffentlichkeit und mied alles Laute und Aufsehenerregende. Strauß führt ein zurückgezogenes Leben in der Uckermark und will den christlichen Glauben, der ihm sehr wertvoll ist, an seine Kinder weitergeben.

Sein neuestes Werk „Vom Aufenthalt“ erscheint noch introvertierter als die vorangegangenen, beinahe wie ein Monolog. Schon der Titel verweist auf die religiöse Dimension. Das Erdenleben ist nur ein kurzes Durchgangsstadium; was zählt ist die Ewigkeit. Wieviel von dem, was geschrieben wird, hat dann einen Wert? Angewidert von der Oberflächlichkeit und Geschwätzigkeit unserer Gesellschaft, empfiehlt Botho Strauß, lieber zu schweigen, anstatt die Botschaft zu zerreden oder dem Zeitgeist anzupassen. „Eine protestantische Predigt, das ist in den meisten Fällen, als spräche ein Materialprüfer vom TÜV über den Heiligen Gral.“

Gerade in der christlichen Dichtung scheint sich die Volksweisheit zu bestätigen: „Reden ist Silber, schweigen ist Gold.“ Selbst die beste Literatur kann nur ein Vorraum zum Glauben sein. Wer die Schwelle zum Heiligen selbst überschritten hat, für den mag dieser Vorraum uninteressant sein. Dem Geheimnis Gottes kann man sich am besten im Schweigen nähern.

 

Georg Alois Oblinger, Jahrgang 1967, studierte Theologie in Trier und Augsburg und wurde 1995 zum Priester geweiht. Er ist tätig als Publizist, Religionslehrer und Pfarrer in der Diozöse Augsburg. Seit 2001 schreibt er regelmäßig für die JF.

Foto: Paul Claudel, französischer Schriftsteller: „Alles, was wir entbehren, dient uns zum Gebet.“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen