© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/10 20. August 2010

Aufforderung zum konsequenten Handeln
Kriminalität: Das juristische Vermächtnis der Jugendrichterin Kirsten Heisig zeigt, daß sich der Staat durchsetzen kann – wenn er nur will
Gerhard Vierfuss

Unter den zahlreichen Verdiensten der verstorbenen Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig ist dieses vielleicht das größte: gezeigt zu haben, daß der Rechtsstaat über die Mittel verfügt, auf die in ihrem Buch „Das Ende der Geduld“

(JF 31-32/10) dargestellte Herausforderung durch jugendliche Gewalttäter wirksam zu reagieren. Ein Blick auf ihr als „Neuköllner Modell“ bekannt gewordenes juristisches Vermächtnis zeigt: Weder ist die Gesellschaft machtlos, noch ist sie genötigt, ihre Grundsätze über Bord zu werfen, um sich zu behaupten. Wir können dem Recht allgemeine Geltung verschaffen – wenn wir das wollen.

Erforderlich hierfür ist allerdings ein gemeinsames, koordiniertes Vorgehen aller betroffenen staatlichen Institutionen: insbesondere der Schulen, der Jugendämter, der Polizei, der Staatsanwaltschaften und der Gerichte. Die von Heisig gemachten, sehr fundierten Empfehlungen richten sich an alle diese Stellen und umfassen sowohl präventive wie auch repressive Maßnahmen. Ihre zentralen Maximen lauten: Keine Toleranz für Gewalttäter. Kein Zurückweichen des Staates bei Verletzungen des Rechts, wo auch immer sie geschehen.

Erster und entscheidender Ansatzpunkt ist die Stärkung der Schulen. 20 Prozent der Hauptschüler in Berlin-Neukölln schwänzen dauerhaft den Unterricht. Staatliche Reaktionen darauf blieben bis vor kurzem meist aus: Bußgelder gegen die Eltern wurden zwar verhängt, aber nicht vollstreckt. Heisig weist auf den Zusammenhang zwischen Schuldistanz und Kriminalität hin: Nahezu alle Mehrfachtäter seien Schulverweigerer. Sie erreichte immerhin, daß seit 2008 in Berlin Bußgeldbescheide mit der Androhung von Erzwingungshaft verbunden werden.

Doch die Schulen haben nicht nur mit dem Problem des Schwänzens zu tun, sondern vor allem mit  Gewalt der Schüler auch gegenüber ihren Lehrern. Die Schulen stehen dem bislang hilflos gegenüber; Schulleitungen raten den Lehrern häufig sogar davon ab, Anzeige zu erstatten. Hiergegen wendet Heisig ein, Angriffe gegen Staatsbedienstete  dürften unter gar keinen Umständen hingenommen werden.

Damit rückt die strafrechtliche Seite der Problematik in den Fokus. Zur Steigerung der Effizienz des jugendgerichtlichen Verfahrens empfiehlt Heisig eine Vielzahl von Maßnahmen, die sie teilweise noch in Berlin in die Praxis umsetzen konnte und die unter dem Namen „Neuköllner Modell“ Bekanntheit erlangten. Bestandteile dieses Modells sind zum einen die bessere Verzahnung von Schule, Jugendamt, Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendrichtern und zum anderen die konsequente Nutzung des in den Paragraphen 76 ff. des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) geregelten vereinfachten Jugendverfahrens.  Auf diese Weise läßt sich eine erhebliche Verkürzung der Verfahrensdauer auf wenige Wochen erreichen.

Das vereinfachte Jugendverfahren eignet sich nur für einfach gelagerte Fälle leichter Kriminalität. In komplizierteren Fällen, bei denen gleichwohl die Anordnung von Untersuchungshaft noch nicht in Betracht kommt, bleibt es weiterhin dabei, daß die Jugendlichen von Konsequenzen ihrer Tat viel zu lange unbehelligt bleiben. Hier bringt Heisig eine weitere Vorschrift ins Spiel, die in der Rechts­praxis weitgehend ignoriert wird: Nach Paragraph 71 JGG kann der Richter während des laufenden Verfahrens vorläufige Anordnungen über die Erziehung treffen. Hierzu zählt auch die  Unterbringung in einem Heim. Damit ist bereits nach geltendem Recht auch in diesen Fällen die Möglichkeit eröffnet, frühzeitig pädagogisch auf den Jugendlichen einzuwirken.

Kirsten Heisig spricht sich gegen eine Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze aus; entschieden plädiert sie hingegen für die Einrichtung geschlossener – selbstverständlich hervorragend auszustattender – Heime zur Unterbringung von Kindern, die auf andere Weise nicht pädagogisch erreicht werden können, insbesondere deswegen nicht, weil sie in einer kriminellen Umgebung aufwachsen. Dies betrifft vor allem die kurdisch-libanesischen Clans, die sich in mehreren deutschen Großstädten angesiedelt und gegenüber allen Beeinflussungsversuchen der Behörden als resistent erwiesen haben. Aus Angst schrecken die Jugendämter jedoch gerade in diesen Fällen vor Zwangsmaßnahmen zurück.

Angst sei ein schlechter Ratgeber, bemerkt hierzu Heisig. Doch die Angst ist berechtigt, solange der Staat die von den Clans ausgehende Gefahr ignoriert und die Behördenmitarbeiter unter Hinweis auf die normative Erwartung rechtmäßigen Verhaltens mit ihr allein läßt. Um der Angst die Grundlage zu nehmen, ist zweierlei notwendig: Staatsanwaltschaft und Polizei müssen endlich massiv gegen die kriminellen Vereinigungen vorgehen, als die sich diese Familien darstellen; und die Polizei muß denjenigen Amtsträgern, die sich bei Maßnahmen ihnen gegenüber exponieren, Personenschutz gewährleisten.

Damit sind wir beim politischen Kern des Problems: der Vernachlässigung der öffentlichen Sicherheit durch die Parteien und, damit einhergehend, Personalkürzungen bei der Polizei, insbesondere in Berlin. Umsonst werden der Verfall der Großstädte und die Verwahrlosung eines Teils der Jugend nicht aufzuhalten sein.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen