© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/10 20. August 2010

Naive Diplomatie
Großbritannien: Die Außenpolitik der neuen Regierung läßt keine konsequente Linie erkennen / Cameron verblüfft im In- und Ausland
Derek Turner

Tausende Tote und Verletzte, 20 Millionen Obdachlose und mehrere hunderttausend zerstörte Gebäude und Wohnhäuser, ein Großteil der Ernte vernichtet – das ist die bisherige Bilanz der sintflutartigen Regenfälle und verheerenden Überschwemmungen in Pakistan. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen für die bislang einzige islamische Atommacht sind unabsehbar. Die ausländische Unterstützung ist inzwischen angelaufen, selbst der verhaßte Nachbar Indien hat millionenschwere Hilfen angeboten.

Dennoch ließ sich Pakistans Präsident Asif Ali Zardari fast zwei Wochen Zeit, bis er erstmals Opfer des Hochwassers besuchte. Das löste heftige Kritik aus, denn Zardari war trotz der Jahrhundertflut erst Dienstag vergangener Woche von einer wichtigen Auslandsreise zurückgekehrt. Sein Staatsbesuch in London stand im Schatten schwerer diplomatischer Reibereien zwischen den beiden Commonwealth-Partnern Großbritannien und Pakistan.

Grund dafür waren Äußerungen, die Premierminister David Cameron am 28. Juli im indischen Bangalore gegenüber Journalisten machte. Mit Blick auf das verfeindete Nachbarland Pakistan sagte er dort: „Wir dürfen keinesfalls hinnehmen, daß dieses Land sich nach beiden Seiten orientiert und in irgendeiner Weise imstande ist, den Export des Terrors zu unterstützen.“ Damit spielte Cameron auf Geheimdienstdossiers an, die das Internetportal Wikileaks jüngst veröffentlichte. Sie enthielten Hinweise auf eine Beteiligung des pakistanischen Geheimdienstes ISI an terroristischen Aktivitäten der Taliban.

Die pakistanische Regierung wies Camerons Anschuldigungen erzürnt zurück. Schließlich sei Pakistan selber Zielscheibe von Angriffen der Taliban und habe bereits 2.700 Gefallene bei dem Versuch verloren, die notorisch unregierbaren Grenzgebiete zu Afghanistan unter Kontrolle zu bringen. Ein geplanter London-Besuch pakistanischer Geheimdienstexperten in der letzten Juli-Woche wurde daraufhin abgesagt.

Verstimmt waren auch einige unter Camerons Parteifreunden, nach deren Ansicht der Regierungschef sich gegenüber seinen indischen Gastgebern allzu zuvorkommend zeigte, indem er die Forderung nach der Rückgabe des Koh-i-Noor-Diamanten nicht mit der gebotenen Schärfe zurückwies. Der 105karätige Edelstein gehört seit 1850 zu den britischen Kronjuwelen – lange vor der Gründung des modernen indischen Staates. Bevor er nach London gelangte, lag er in der Schatzkammer des Punjab, einer Region, die heute teilweise zu Pakistan gehört.

Auch Camerons Angebot, Neu-Delhi in der Frage einer Begrenzung der Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern zu konsultieren, stößt längst nicht bei allen Tories auf Gegenliebe. Die Pläne zur Einwanderungsbeschränkung, die zu den zentralen Wahlversprechen der Konservativen Partei zählten, sind nicht nur von seiten des liberaldemokratischen Koalitionspartners (insbesondere des Wirtschaftsministers Vince Cable) unter Beschuß geraten; auch die Wirtschaft ist alles andere als glücklich darüber.

„Den Weg von Ankara nach Brüssel ebnen“

Camerons Gegner im eigenen Land sehen seine Äußerungen in Indien als Ausweis mangelnder außenpolitischer Erfahrung. Dabei vergessen sie freilich, wie sehr der Labour-Außenminister Robin Cook die indische Regierung 1997 mit seinen kritischen Anmerkungen zum Kaschmir-Konflikt aufbrachte. Großbritannien ist gut beraten, sich hier nicht einzumischen.

Immer öfter wird die Kritik laut, Cameron sei stets bemüht, nur das zu sagen, was sein jeweiliges Publikum hören will. Die Rede, die er am 27. Juli in Ankara hielt, war geeignet, Zyniker in dieser Annahme zu bestärken. Denn Cameron redete enthusiastisch einem baldigen EU-Beitritt der Türkei das Wort, erklärte sich „verärgert“ über den schleppenden Fortschritt der Verhandlungen und versprach seinen Gastbebern, eigenhändig „den Weg von Ankara nach Brüssel zu ebnen“.

Doch Camerons pro-türkische Haltung ist kein reiner Opportunismus. Viele führende Tory-Politiker sind bekennende Unterstützer des Arbeitskreises Conservative Friends of Turkey. Selbst ausgesprochene Euro-Skeptiker wie der Unterhaus-Abgeordnete Bill Cash oder der EU-Parlamentarier Daniel Hannan befürworten eine Aufnahme der Türkei – allerdings hauptsächlich deswegen, weil sie sich davon einen schnellen Untergang der ungeliebten EU erhoffen. Indes übersehen sie dabei, daß sich mit einem EU-Beitritt der Türkei der Anteil der Muslime an der EU-Bevölkerung von jetzt fünf auf fünfzehn Prozent verdreifachen würde. Hunderttausende Türken würden nach Großbritannien, Frankreich und Deutschland drängen.

Gegenüber Israel machte sich die neue britische Regierung ebenfalls nicht gerade beliebt. Sowohl Cameron als auch sein Parteifreund und Außenminister William Hague verurteilten den israelischen Angriff auf den „Free Gaza“-Konvoi am 31. Mai und sprachen sich für eine Zwei-Staaten-Lösung in Palästina aus. Bei seinem Türkei-Besuch nannte Cameron Gaza ein „Gefangenenlager“. Zu allem Übel wurde auch noch bekannt, daß Simon Fraser, der neue Staatssekretär im Außenministerium, in den neunziger Jahren wegen einer Affäre mit einer PLO-Funktionärin als Berater der Major-Regierung zurücktreten mußte.

Und nicht zuletzt sind die meisten Tories zwar pro-amerikanisch eingestellt und begrüßen Hagues Bekräftigung des „unverbrüchlichen Bündnisses“ mit den USA (JF 31/10). Daß Cameron sein eigenes Land jüngst als „Juniorpartner“ der USA bezeichnete, ging ihnen dennoch zu weit – zumal sich der jetzige britische Premierminister in seiner Rede auf das Jahr 1940 bezog, also noch vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Mag sein, daß es sich bei solchen Ausrutschern nur um die unvermeidlichen Kinderkrankheiten einer neuen Regierung handelt, die am Dienstag ihre ersten hundert Tage im Amt ist. So oder so lassen sie aber den bösen Verdacht aufkommen, daß die „neue“ britische Außenpolitik lediglich das Ziel verfolgt, Großbritannien noch weniger britisch zu machen.

 

Derek Turner ist Publizist und seit 2007 Herausgeber der britischen Zeitschrift „Quarterly Review“ (www.quarterly-review.org).

Foto: Premier Cameron mit Pakistans Präsident Zardari in Buckinghamshire: Eine „neue“ Außenpolitik?

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