© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/10 20. August 2010

Flanieren im Datenmüll
Wer hat Angst vor dem Großen Bruder Google? Zur Debatte um Street View
Baal Müller

Es ist schon praktisch, in wenigen Sekunden Informationen zu googeln, nach denen man früher stundenlang in Bibliotheken recherchieren mußte – aber das, was ein potentieller Arbeitgeber mit wenigen Klicks über einen Bewerber erfährt, kann schnell dazu führen, daß ein Vorstellungsgespräch gar nicht mehr stattfindet. Und erst recht wer sich politisch in kritischer Distanz zum Mainstream bewegt, weiß ein Lied davon zu singen, wie es ist, wenn ihn ein ansonsten wenig informierter Bekannter oder Geschäftspartner auf eine über ihn ergoogelte Internetseite hinweist.

Denkt der durchschnittliche Internetnutzer bei dem Namen Google vor allem an die mit 80 Prozent Marktanteil weltweit führende Suchmaschine, so hat er nur einen kleinen Teil der gewaltigen Macht des vor zwölf Jahren von den Studenten Sergei Brin und Larry Page gegründeten, zunächst vom Schlafzimmer des letzteren aus betriebenen und seit 2004 börsennotierten Unternehmens erfaßt, das heute einen Umsatz von 23,6 Milliarden Dollar erwirtschaftet und die mit 160 Milliarden Dollar teuerste Marke der Welt vertreibt. Ihm ist wohl kaum bewußt, daß Google sämtliche Daten seiner Recherchen speichert, um die zu seinem Interessenprofil passende Werbung einzublenden und um so mehr Informationen über ihn sammelt, je mehr Dienste wie diejenigen von Google Search (Hauptkritik: die Cookies), Google Map, Google Mail, Google Analytics oder Google Health, wo man nach Preisgabe entsprechender Details medizinische Auskünfte erlangen kann, er nutzt.

Bislang war es immerhin möglich, sich dieser Praxis einigermaßen zu entziehen, indem man den Computer abschaltete oder andere Suchmaschinen verwendete, aber seit einigen Wochen wächst die Befürchtung, daß sich dies durch die Einführung des umstrittenen, in vielen Ländern bereits nutzbaren Google Street View auch in Deutschland ändern könnte. Die Proteste von Datenschützern und Politikern sind ebenso laut wie – im Falle von letzteren – scheinheilig und entsprechende Auflagen durch die Unkenntlichmachung von Gesichtern und Autonummernschildern sowie durch Einspruchsrechte bei der Veröffentlichung von Hausansichten ohne weiteres erfüllbar.

Zweifellos werden die Vertreter der „global vernetzten“, „kommunikativen“ Welt den Sieg über die Datenschützer davontragen, die man im Spiegel als Verteidiger privater Gartenzwergidyllen verunglimpft – zumal das Online-Flanieren nur eine Weiterentwicklung der in Deutschland stark ausgeprägten „Panoramafreiheit“ darstellt. Nach dieser dürfen urheberrechtlich geschützte Objekte wie Gebäude und Kunstwerke, die sich dauerhaft an öffentlichen oder öffentlich einsehbaren Orten befinden, abgebildet, die Abbildungen vervielfältigt und auch kommerziell genutzt werden – das Interesse der Allgemeinheit überwiegt klar das private Sonderinteresse.

Obwohl die Angst vor den Google-Kamerawagen – neuerdings wird sogar der Einsatz unbemannter Fluggeräte des deutschen Unternehmens Microdrones erwogen – Züge einer vor allem durch die Bild-Zeitung angeheizten Hysterisierungskampagne aufweist, ist die weitverbreitete Furcht vor der Entprivatisierung des Menschen, einem Hauptbestandteil linker Gesellschaftsveränderung, die einmal mehr die ideologische Begleitmusik des angeblich bekämpften Kapitalismus abgibt, ernstzunehmen.

Zu dem Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft tritt allerdings ein räumlicher und ein zeitlicher Dualismus hinzu: Das Lokale wird global, und das Temporäre wird dauerhaft. Das Haus war auch früher schon von der Straße aus erkennbar und durfte gemalt oder fotografiert werden – aber um es zu sehen, mußte man sich hinbemühen, und die Abbildung fand sich auf Postkarten, in Büchern oder Filmen, war aber doch nicht permanent konsumierbar.

Kritiker der modernen Zivilisation wie Hermann Hesse bemerkten schon zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, diese habe durch technologische Mobilisierung und allgemeine Beschleunigung „Raum und Zeit getötet“. Der Welt wird gleichsam ihre Aura genommen, die zum einen in ihrer lokalen Eigenart und zum anderen in der Unverfügbarkeit des Ganzen besteht: Sie „wel­tet“ nach Heidegger als das schlechthin Umgreifende, indem sie sich erschließt und gleichzeitig entzieht. Sie bleibt dabei immer Verheißung und Geheimnis.

Letztlich steht hinter der Angst vor der totalen Verfügbarkeit des Globus (und umgekehrt hinter der Faszination, die von den Szenarien unkontrollierbarer Katastrophen ausgeht) ein horror vacui, ein Schrecken angesichts der Langeweile, die übrigbleibt, wenn alles erkannt und steuerbar ist – nicht zufällig wurde der Weltraum in dem Augenblick zu einem Objekt menschlicher Begierde, als die letzten weißen Flecken auf den Landkarten des Planeten getilgt waren.

Vielleicht erfüllt uns die „Tötung“ des Raumes mit Unbehagen, weil wir noch die Gene unserer Vorfahren in uns tragen, die vor zehntausend Jahren durch menschenleere Einöden zogen und denen die Weite des mit immer neuen Abenteuern angefüllten Raumes Faszinosum und Tremendum war?

Eine völlige Veränderung unserer Begriffe von Persönlichkeit und Privatsphäre wird sich nicht durch Street View, sondern durch die ebenfalls von Google vorangetriebene Abkoppelung des Internet vom Computer und seine Verschmelzung mit dem Mobilfunk ergeben. In den Worten des Trendforschers Nils Müller wird das Internet zum „Outernet“, und die ganze Welt mutiert zu einer einzigen Benutzeroberfläche. Wer dann, um nur ein harmloses Beispiel zu bemühen, eine attraktive Frau an der Bar sieht, fotografiert sie unauffällig, läßt sich alle über sie online verfügbaren Daten anzeigen und lädt sie mit lässiger Selbstverständlichkeit zu ihrem Lieblingsdrink ein.

Abgesehen davon, daß noch so viele Informationen fehlenden Charme nicht ersetzen, funktioniert dieser Trick selbstverständlich nur, solange eine Seite über einen technologischen Vorsprung verfügt. Insgesamt werden wir aber der zunehmenden Veröffentlichung des Persönlichen nicht entgehen können und müssen neue Selektionsmechanismen entwickeln, um die Fluten des Datenmülls zu bewältigen. Wenigstens besteht die Hoffnung, daß die fortschreitende Enttabuisierung auch des Intimsten zu einem Desinteresse an „privaten Details“ führen wird, die jeder mit hundert Millionen anderen Menschen teilt.

Auch was die zunehmende Überwachung betrifft, kann schnell ein Umschlag erfolgen: So sehr die Gesinnungsschnüffelei durch das Internet gefördert wird, so schnell können sich durch „Graswurzelrevolutionen“ die Waffen der Informationsgesellschaft gegen politische Institutionen, einförmige Massenmedien oder unseriöse Firmen richten.

Foto: Street-View-Aufnahme mitten auf der Europa-Brücke zwischen Straßburg und Kehl: Furcht vor Entprivatisierung

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